Materialien 1989

Unter die Räder gekommen

Bei der Verkehrspolitik wird in München nur Flickwerk betrieben

Die Reaktionen waren typisch. Kaum hatte die Stadtverwaltung von München in diesem Sommer eine ganz nahe am Englischen Garten gelegene und von den Autofahrern als Rennstrecke miss-
brauchte Wohnstraße für den Pkw-Verkehr gesperrt, da hagelte es wütende Proteste. Eine im Stau der plötzlich blockierten Blechkutschen steckengebliebene Werbeassistentin fand diese Maßnahme „absoluten Blödsinn“. Der ebenfalls im Stau eingekeilte Taxifahrer Heinz Wieser wusste sogleich, wer für diese Entscheidung verantwortlich ist: „Das war ein Schildbürgerstreich von Leuten, die nicht wissen, was sie tun.“ In scharfem Ton fügte er an, so als müsse es die verantwortlichen Stadtplaner mächtig ärgern: „Da macht das Fahren keinen Spaß mehr.“

Der Droschkenlenker wird sich damit abfinden müssen, dass genau das die Absicht der Verkehrs-
politiker in München ist. Denn mit solchen Mitteln legen sie es gerade darauf an, die Bürger weg vom Auto auf die öffentlichen Verkehrsmittel zu lenken, auf das Fahrrad oder schlichtweg auf Schusters Rappen. In der bayerischen Landeshauptstadt ist das alte Ziel „der autogerechten Stadt“ obsolet, das der ehemalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel noch bei seinem Amtsantritt 1960 verkündet hatte.

„Die autogerechte Stadt kann man vergessen“, sagt geradezu verächtlich des ehemaligen SPD-
Oberbürgermeisters Parteifreund Uli Zech, der als Stadtplanungsreferent seit nunmehr zwanzig Jahren auch der oberste politische Verkehrsplaner in München ist. „Man kann dem Auto den technisch erforderlichen Raum in der Stadt nicht schaffen.“ Heute sollen Totalsperrungen ganzer Stadtgebiete; Tempo-30-Zonen, radikale Parkplatzverknappung und eine verschärfte Parküber-
wachung dafür sorgen, die Münchner von ihren geliebten Blechkutschen auf U- und S-Bahnen umzuleiten und die Stadt vom Autoverkehr zu entlasten.

Denn diese Metropole hat es besonders schwer. Sie ist mit 1,3 Millionen Einwohnern bezogen auf ihre Fläche die am dichtesten besiedelte westdeutsche Großstadt. Über vierzig Einwohner quet-
schen sich statistisch im Millionendorf München auf jedem Hektar Grundfläche, in Hamburg sind es gerade halb soviel. Der Autoverkehr in dieser von der elektrotechnischen und elektronischen Industrie beflügelten Wachstumsstadt, in der bereits über 650.000 Autos zugelassen sind, steht vor dem Kollaps. Rechnerisch hat jede Blechkutsche gerade noch 3,5 Meter Straße zur Verfügung, weniger als in jeder anderen deutschen Großstadt. Rien ne va plus. „Die Grenzen der Verkehrs-
kapazität und der Umweltbelastungen sind in München erreicht“, ist das nüchterne Fazit des Verkehrsplanungsbeamten Wilfried Schwerdtfeger.

Hektisches Herumwerkeln

Da klingt es geradezu defensiv, wenn Wolfgang Remling, der Leiter der Verkehrsplanung bei der Münchner Stadtverwaltung sagt, seiner Behörde gehe es darum, „ein Konzept zu machen, wie man trotz des steigenden Verkehrs in der Stadt noch einigermaßen vernünftig leben kann“. Und wie soll das gehen? „Das läuft darauf hinaus, den Individualverkehr zurückzudrängen.“

Das ist aber leichter gesagt als getan. Denn der Straßenverkehr nimmt in München explosionsartig zu. Mit Schaudern berichten die Beamten des Münchner Planungsreferats: Täglich fahren knapp eine Million Autos in die Stadt und wieder heraus, zweieinhalbmal soviel wie im Jahr 1970. „Dieses Ausmaß macht uns unheimlich Sorgen“, sagt der Verkehrsbeamte Schwerdtfeger. Allein der Zuwachs auf den Autobahnen rund um München betrug in den Jahren 1985 bis 1988 stolze 22 Prozent. Schwerdtfeger: „Mit dieser Verkehrsmasse kann eine Stadt nicht fertigwerden.“

Aber es ist nicht nur der gestiegene Verkehrsdruck, der die Planer verzweifeln lässt. Verkehrspla-
nung in München ist offenbar so schwer, weil es ein einheitliches Konzept für die Millionenstadt und ihre Umgebung nicht gibt. Denn im Großraum München haben zwei Regierungen das Sagen, wenn es um Verkehrspolitik geht, die des Landes und die der Stadt. Aber schon für die Landes-
hauptstadt allein gibt es keine konsequente Verkehrsstrategie, weil der SPD-Bürgermeister Georg Kronawitter selbst mit den Grünen im Stadtrat über keine Mehrheit mehr gegen die CSU und die FDP verfügt, seit vor einiger Zeit zwei SPD-Stadträte ihre Fraktion verließen und der OB ohne die Konservativen nichts ausrichten kann. Verkehrspolitische Entscheidungen wirken daher in München eher wie hektisches Herumwerkeln an Details.

So wird gerade geplant, im City-Bereich eine kleine Straße nahe dem Nationaltheater für den Autoverkehr ganz zu sperren und der schon vorhandenen Fußgängerzone anzugliedern, damit sie nicht länger für den Durchgangsverkehr genutzt werden kann. Die enge Münchner Altstadt aber nach dem Vorbild von Mailand oder Bologna ganz für die Autos zu sperren (siehe ZEIT Nr. 41) ist offenbar den Stadtvätern ein noch zu heißes Eisen. „Ich habe das Gefühl, dass so etwas in München im Moment noch nicht machbar ist“, urteilt Professor Bernhard Winkler, Architekt und Städte-
planer an der Technischen Universität München. Winkler ist zwar in norditalienischen Städten und sogar in Rom ein gefragter Experte für die Rettung der alten historischen Zentren, aber in München sind seine Ideen keineswegs gefragt. Allenfalls ganz vorsichtig kündigt der oberste Planungschef Zech an, er könne sich die komplette Stillegung der City vorstellen: „Ich würde sagen, dass es sicherlich in absehbarer Zeit Schritt für Schritt so kommen wird.“

Bis dahin quälen sich weiterhin täglich 170.000 Autos in den winkligen Gassen rund um den Viktualienmarkt oder den Marienplatz, von denen die Hälfte die Altstadtstraßen aber nur als Abkürzung und zur Durchfahrt nutzen. Bis dahin werden die Abgase die Innenstadt ihrem Er-
stickungstod weiterhin näherbringen. Der Oberbürgermeister Georg Kronawitter kann es täglich im Rathaus am Marienplatz riechen und sehen, wie die Weltstadt mit Herz unter die Räder kommt: „Täglich quälen sich allein 170 000 Autos durch die winkligen Gassen rund um den Münchner Viktualienmarkt oder den Marienplatz. Die Millionenstadt kann mit der Verkehrsmasse nicht mehr fertig werden. Der Verkehr bedroht die Lebensqualität unserer Stadt ganz erheblich.“ Den Konservativen im Stadtrat unter Führung von CSU und FDP fehlt dagegen noch das Problem-
bewusstsein. Mit Blick auf die Stadtratswahl im kommenden Frühjahr geht dem CSU-Stadtrats-
fraktionsvorsitzenden Zöller sogar schon die Teilabsperrung der City zu weit, der er nur für eine Probephase zustimmte: „Die Innenstadt darf nicht stranguliert werden.“

Noch immer werkeln in München die politischen Kräfte, die die Zurückdrängung des Autos als Stadtverkehrsmittel und erst recht die Totalbefreiung einer Innenstadt vom Auto für äußerst ge-
fährlich halten. Industrie- und Handelskammer, der Einzelhandelsverband und natürlich der in München beheimatete ADAC protestierten schon in einem gemeinsamen Brief bei OB Kronawitter gegen die Beruhigungspläne. Sie fürchten um das Geschäft der Geschäfte in der City.

Doch diesen Einwand kann der Oberbürgermeister mit Erfahrungen aus der Vergangenheit leicht entkräften. Bevor München zu den olympischen Spielen 1972 eine Fußgängerzone bekam, schaff-
ten es rund 100.000 Besucher, sich mit ihren Autos täglich zum Marienplatz durchzuschlagen. Heute kommen mit U- und S-Bahn täglich 450.000 Menschen in diesen Bereich, um in Kaufhäu-
sern und Restaurants ihr Geld auszugeben. Auch der Münchner Planungsreferent Zech lässt den Einwand nicht gelten, dass Fußgängerzonen für die Geschäfte Verluste bedeuten: „Unsere Erfah-
rung mit der Fußgängerzone ist die, dass die Umsätze exponentiell gewachsen sind, nachdem man mit dem Auto nicht mehr vorfahren konnte.“

Zu den Widersprüchlichkeiten der Verkehrsplanung in München gehört aber auch, dass zwar nach wortreichen Erklärungen der Autoverkehr generell zurückgedrängt werden soll, zugleich aber geradezu abenteuerlich anmutende Pläne zum weiteren Straßenausbau der Landeshauptstadt in den Schubladen liegen. „Wahnsinn“, heulte vor einigen Monaten in einer riesigen Schlagzeile das Münchner Boulevardblatt Abendzeitung auf: „Eine Autobahn mitten durch den Englischen Gar-
ten“. Das Blatt erregte sich darüber, dass der ohnehin schon in den sechziger Jahren durch den Ausbau des Mittleren Rings in der Mitte durchgeschnittene große Erholungspark in Zukunft sogar noch durch eine sechsspurige Piste entwertet werden soll. Zwar gibt es für diesen politisch heiklen Plan bisher keinen offiziellen Beschluss des Stadtrates, aber es ist zu erwarten, dass er eines Tages fallen wird. Die von der Stadtverwaltung selbst geschaffenen Fakten werden dafür sorgen, denn vor dem Englischen Garten und dahinter ist der große Verkehrsmagnet Mittlerer Ring bereits sechs-
spurig geplant. Eine nur vierspurige Passage im Englischen Garten wäre ein Engpass, der die Frage nach einem weiteren Ausbau binnen kürzester Zeit aufzwingt.

Finanzielle Grenzen

Nicht genug der Widersprüchlichkeiten: Die Münchner Stadtväter betonen immer wieder, wie wichtig ihnen der Ausbau des U- und S-Bahnsystems ist, das schon jetzt für sich in Anspruch nehmen kann, vorbildlich zu sein. Allerdings bewirkt die Stadtpolitik keineswegs die konsequente Stärkung der Untergrundbahnen. Das Ausbautempo des Untergrund- und Schnellbahnsystems hält mit der Zunahme des Verkehrs in München keineswegs Schritt. Die Folge ist, dass der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel am Gesamtverkehr in der Stadt abnimmt. Vor drei Jahren nutzten exakt fünfzig Prozent der Münchner die öffentlichen Verkehrsmittel auf ihren Wegen in die Stadt. Heute ist der Anteil von Bussen und Bahnen bereits auf 46 Prozent gesunken, nicht zuletzt, weil sie völlig überlastet sind.

Der notwendige Ausbau der umweltfreundlichen Bahnen stößt an finanzielle Grenzen. Zwar baut die Stadt München jedes Jahr drei Kilometer neue U-Bahn für 300 Millionen Mark, von denen
die Kommune selbst 60 Millionen aufbringt. Doch genausoviel Geld steckt sie in den Straßenbau. Außerdem tut sich die Stadt mit den Verlusten des Münchner Verkehrsverbundes (MVV) schwer, die mit jedem U-Bahn-Kilometer größer werden. In diesem Jahr allein wird der MVV 370 Millionen Mark Verlust einfahren.

Dennoch gibt es für den Stadtplanungsreferenten Uli Zech überhaupt keine Alternative zur Verlän-
gerung des U-Bahn-Netzes. „Diese Defizite sind bitter, aber sie müssen bezahlt werden. Es gibt keine Alternative, denn wir könnten für dieses Geld keine Straßen bauen, wir müssten dazu die halbe Stadt abreißen.“ Doch das würde nicht einmal dem Verkehrsfluss helfen, wie Oberbürger-
meister Kronawitter weiß: „Der optimale Ausbau des Mittleren Rings würde uns eine Milliarde Mark kosten. Damit wäre das Verkehrsproblem aber nicht gelöst. Der Stau steht dann eben an einer anderen Stelle.“

In ein Dilemma wird die Stadtverwaltung aber auch durch den neuen Münchner Flughafen gestürzt, der gerade in gigantischer Dimension dreißig Kilometer nördlich von München ins Erdinger Moos betoniert wird. Dieser Riesenairport mit zwei unabhängigen Start- und Landebahnen, der die Kapazität des alten Flughafens in Riem um mehr als das Doppelte übertreffen wird und der 1992 in Betrieb gehen soll, stellt die Verkehrsplaner der Stadt vor
schier unlösbare Probleme …

Karl-Heinz Büschemann


Die Zeit 42 vom 13. Oktober 1989.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Umwelt

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