Materialien 1989

Straßenschlacht

Verkehr in München — das heißt heute: Dauerstau auf den Straßen, riesige Defizite des MVV, zögernde Verkehrspolitiker und kein Konzept für die neunziger Jahre. „Verkehrschaos“ lautet das Schlagwort. Felix Berth fragt in einer dreiteiligen Serie nach den Ursachen, sucht Zusammenhänge und stellt politische Alternativen vor.

Der erste Teil: Autos in München. Eine Diagnose

Jeden Tag jagen hier 100.000 Autos vorbei, unüberhörbar, unüberriechbar. In Zweierreihen rauschen die Golfpandafiesta in die Tunnelröhre an der Landshuter Allee, eine endlose Bewegung, die nur Gestank und Lärm hinterlässt. Fußgänger hetzen schnell vorbei, denn zehn Minuten in dem Gas machen zwanzig Minuten benommen. 100.000 Autos in 24 Stunden — das ist eine Blechlawine, die nur noch auffällt, wenn der Verkehrsfunk wieder einmal „Stau“ auf der Landshuter Allee meldet. Ansonsten lebt man mit der Straße, dem Gift, dem Notarztwagen. Der Wahnsinn wird alltäglich.

Und der Wahnsinn hat einen Namen: Mittlerer Ring. Hier wird die Straßenschlacht Münchens geschlagen. Hier, nicht in irgendwelchen abgelegenen Wohngebieten mit Verkehrsberuhigung, zeigt sich die Münchner Politik. Verfehlter Straßenbau, aus dem die Münchner Verkehrspolitiker nur mühsam oder gar nicht lernen.

Der Mittlere Ring ist ein Ergebnis des in den sechziger Jahren unternommenen Versuchs, München zur „autogerechten Stadt“ umzubauen. Die Politiker machten das Auto zum Maß aller Dinge: Breite Straßen und schmale Gehwege entstanden, schnelle Stadtautobahnen und flotte Ringstrecken. Die Planer legten den Altstadtring und den Mittleren Ring an und hofften, dass der wachsende Verkehr dort problemlos laufen würde. München war auf dem Weg zur „Autogerechtigkeit“.

Die bringt heute pro Jahr 70 Menschen um, darunter 40 Radfahrer und Fußgänger. Doch noch immer sind manchen Stadtplanern die Straßen zu eng, die Staus zu häufig. Für den Mittleren Ring buddeln sie seit zehn Jahren die „Lösung“: Tunnels. An drei Stellen läuft der Ring heute unter der Erde, drei weitere Tunnels sind geplant. Ein leckeres Schlagwort haben die Planer dafür: „Kreuzungsfreier Ausbau“. Der erste Eindruck macht ihr Projekt sympathisch: Autos verschwinden von der Oberfläche, rasen nicht mehr durch Wohngebiete und ihr Krach stört keinen mehr.

Wegen Straßenbau weiter Stress und Stau

Doch diese Kalkulation geht nicht auf. Denn jede neue Straße produziert neuen Verkehr. Jedes Tunnelangebot schafft sich seine Nachfrage; wer vorher den Stau an der Oberfläche gemieden hat, reiht sich jetzt in die unterirdische Kolonne ein. Wieviel Verkehr dadurch entsteht, zeigt die Trappentreustraße, ein Teil des Mittleren Rings. 1988 wurde sie zum Tunnel umgebaut. Schlagartig stieg damals der Verkehr um 20 Prozent — von 110.000 auf 130.000 Fahrzeuge pro Tag. All diese Autos biegen irgendwann vom Ring ab und fahren dorthin, wo sie eigentlich keiner wollte: ins Wohngebiet.

Drei weitere Tunnelprojekte am Mittleren Ring plant der Stadtrat: Am Petuelring im Norden, am Luise-Kiesselbach-Platz im Süden und an der Richard-Strauss-Straße im Osten. Gesamtkosten nach heutiger Kalkulation: 1,2 Milliarden Mark. Am Petuelring laufen bereits die ersten Arbeiten; noch in den nächsten fünf Jahren wollen SPD, CSU und FDP 170 Millionen Mark hier vergraben (siehe Grafik). Die beiden anderen Projekte müssen noch bis weit in die neunziger Jahre warten; dafür fehlt selbst den bauwütigsten Stadträten das Geld.

Nicht autogerecht, doch autofreundlich

Was ist aus dem Traum der sechziger Jahre geworden? Ist München heute eine „autogerechte Stadt“? Sie ist es nicht. Jeder Stau zeigt es, jede Suche nach dem Parkplatz, jeder Verkehrsunfall. München hat ausgeträumt — und ist erwacht in einer Wolke von Abgasen und Lärm, inmitten von 50.000 Verkehrsunfällen pro Jahr, 9.000 Verletzten, 70 Toten.

Doch die Konzepte von damals prägen das München von heute. Keine einzige Hauptstraße, die vor zwanzig Jahren angelegt wurde, ist zurückgebaut worden. Stattdessen immer wieder Erweiterungen – am Mittleren Ring, aber auch zum Beispiel an der Leopoldstraße.

Daher ist München — trotz „Verkehrschaos“ — eine autofreundliche Stadt, wie ein Geograph der TU München feststellt: „Ein großer Teil des Münchner Stadtgebiets ist heute mit dem Pkw wesentlich besser erreichbar als mit dem öffentlichen Nahverkehr“, diagnostiziert Richard Michael. Sein Ergebnis: „Die Reisezeiten im öffentlichen Nahverkehr sind im Durchschnitt doppelt so hoch wie im Individualverkehr.“ Klar, dass nur wenige umsteigen auf den MVV. Stattdessen bleibt man im Auto, arrangiert sich mit dem Stau und sucht nach privaten Schleichwegen.

Mehr Autos für die Stadt

Wenn sich in Zukunft etwas ändert, dann nicht weil einsichtige Stadtpolitiker etwas gegen die Autos unternehmen. Sondern weil die Autofahrer ganz alleine ihr Verkehrsmittel ad absurdum führen: Ihre Fahrwut blockiert sich selbst — im Stau. Die zugelassenen Autos zeigen die Entwicklung am besten: 1975 waren in München noch 410.000 Autos angemeldet, 1980 waren es 510.000. Heute steht die Statistik bei 670.000 Wagen, und alle Münchner bringt man auf den Vordersitzen ihrer Autos unter. Ein Ende ist nicht in Sicht: Das Kreisverwaltungsreferat prognostiziert für die nahe Zukunft jährlich 20.000 neue Wagen mehr.

An allen Ecken entsteht in München neuer Verkehr, der die Stadt in den kommenden Jahren zusätzlich belasten wird. Zum Beispiel der Flughafen München II: Weit draußen im Erdinger Moos gelegen, hat das „Drehkreuz des Südens“ noch nicht einmal einen Bundesbahn-Anschluss. Und wenn im gegebenen Planungschaos wenigstens die S-Bahn fertig werden sollte, dürfen sich die Münchner freuen. Dass die Fluggäste also mit dem Auto zum Terminal fahren werden, ist so sicher wie die Warteschleifen der Flugzeuge im Nebel des Erdinger Mooses.

Oder das Riemer Flughafengelände. Wenn der Flughafen München II eröffnet wird, sollen hier das Messegelände und eine Menge Wohnungen hin. Sogar ein U-Bahn-Anschluss ist vorgesehen. Doch Stadtgeographen befürchten, dass man hier dennoch zu oft auf das Auto zurückgreifen muss: Hier werden so wenige Leute leben, dass sich Geschäfte, Arztpraxen und Kaufhäuser nicht lohnen. Für die Riemer bleibt nur der Weg zum Arabellapark oder nach Neuperlach — und das geht am schnellsten mit dem Auto.

Die Liste der Beispiele ist beliebig zu verlängern. Wenn der Containerbahnhof der Bundesbahn nach Allach umzieht, wird das jetzige Gelände an der Donnersberger Brücke bebaut — mehr Verkehr. In den neunziger Jahren wird Freiham besiedelt — mehr Verkehr. Entsprechend sieht eine Prognose für das Jahr 2000 aus: Bei gleicher Verkehrspolitik rechnet das ifo-Institut mit einem Drittel mehr Fahrten; statt 1,1 Milliarden Fahrten pro Jahr (1982) werden es 1,4 Milliarden sein. Ein Drittel mehr Verkehr — die Konsequenzen sind gar nicht abzuschätzen.

Das Alibi Verkehrsberuhigung

Während überall neuer Verkehr entsteht, bleiben die Münchner Verkehrspolitiker tatenlos. Sie blicken weg von den Hauptstraßen und zeigen stolz auf ihr Renommierobjekt: die verkehrsberuhigten Nebenstraßen. Hier sei die Stadt auf dem richtigen Weg, tönt es. Über vierzig Gebiete mit Tempo 30 gebe es, und die Erfahrungen mit der Verkehrsberuhigung seien gut. „Die Landeshauptstadt München ist damit in ihren Bemühungen um mehr Ruhe, saubere Luft und mehr Sicherheit auf den Straßen einen wichtigen Schritt vorangekommen“, meint OB Kronawitter.

Sicher, verkehrsberuhigte Wohnviertel werden wieder wohnlicher, so dass Kinder und alte Menschen Chancen gegen die Autos haben. Doch so notwendig Verkehrsberuhigung sein mag — solange die Hauptstraßen nicht angetastet werden, bleiben die Probleme ungelöst. Aber hier zucken die Politiker zurück, und es bleibt alles beim alten. Der Blick auf die Investitionen der nächsten Jahre zeigt, wo die Stadt tatsächlich Prioritäten setzt: Während Verkehrsberuhigung mit 70 Millionen auskommen muss, werden für den Mittleren Ring insgesamt 210 Millionen ausgegeben — das Dreifache (siehe Grafik).

Ähnlich sieht es mit dem vielgepriesenen „Altstadtkonzept“ aus. Am 17. Oktober wurde die Residenzstraße für Autos gesperrt, und die Durchfahrt unterm alten Rathaus ist seitdem ebenfalls dicht. Brav halten sich die Autofahrer daran, und abgesehen vom unverbesserlichen ADAC und der Industrie- und Handelskammer steht die Mehrheit der Münchner hinter dem Konzept: Bei einer Umfrage des „Münchner Forums“ sprachen sich nur 17 Prozent der Befragten gegen die Sperrung der Residenzstraße aus. Fast zwei Drittel, 64 Prozent, waren dafür und werden jetzt mit einer vergrößerten Fußgängerzone belohnt.

Eine nette, notwendige Maßnahme. Doch wieder nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Der Verkehr auf den großen Straßen ist weiterhin tabu, und München bleibt eine autofreundliche Stadt.

Teil 2 im nächsten STADTMAGAZIN: Kein Licht am Ende des Tunnels. Der MVV.


Stadtmagazin München 4 vom 16. November 1989, 20 ff.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Umwelt

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