Materialien 1989

Entgleist: MVV

Verkehr in München

Münchens Autos ersticken das Leben in der Stadt. Und täglich werden es mehr. Das nächste Jahrzehnt bringt: mehr Abgase und mehr Stau, mehr Lärm und mehr Tote. Da richten sich alle Hoffnungen auf den umweltfreundlichen MVV. Doch vor allem die S-Bahn steckt in Schwierigkeiten. Also kein Licht am Ende des Tunnels? Der zweite Teil der Verkehrs-Serie von Felix Berth.

Was hat der liebe Gott mit einer neuen U-Bahn-Strecke zu tun? Nicht ganz einfach für Weihbischof Engelbert Siebler da einen Zusammenhang herzustellen. Doch sein meisterhafter Gedankengang bannt alle Zweifel: „Als Christ vertraue ich darauf, dass mein Leben durchs Dunkel zum Licht gelangen wird“, predigt er. Und das Dunkel im Leben sei ähnlich wie das Dunkel im Tunnel einer U-Bahn. Denn immer, so spricht der Bischof, habe der Mensch Vertrauen – einmal in Gott, das andere Mal in die U-Bahn-Ingenieure.

Nur ein paar Nihilisten schütteln jetzt die Köpfe; der Rest freut sich aufs Freibier, das gleich ausgegeben wird. Denn hier, an der Forstenrieder Allee, lässt die Stadt ihre Bürger feiern: Die Verlängerung der U3 wird eingeweiht. Sie fährt nun nicht mehr zum Harras, sondern biegt an der Implerstraße ab und endet in Forstenried.

460 Millionen Mark Baukosten, sieben Jahre Bauzeit, sechs neue Kilometer U-Bahn – Anlass für schöne Politikerreden. Eine Erfolgsbilanz tönt an diesem Samstag im Oktober vom Podium herab, ein Bekenntnis zum öffentlichen Verkehr, der endlich die Autos eindämmen soll. Zum Beispiel Oberbürgermeister Kronawitter: „Das beste Mittel gegen den Autoverkehr ist der zügige Ausbau des MVV-Systems“, ruft er, und die CSU-Minister Hans Klein und Edmund Stoiber erzählen das gleiche.

Neue U-Bahn-Strecken sorgen bald wöchentlich für Schlagzeilen. Hier ein paar Kilometer, dort ein paar Millionen – immer gibt es Grund zum Jubeln. Allmählich entspricht das Streckennetz den Träumen der Planer: Die heutigen sechs Linien werden nur noch verlängert, und in gut zehn Jahren ist der kostspielige Ausbau beendet. Dann laufen 90 Kilometer Strecke durch München (statt heute 60), und fast überall fahren die Züge bis an die Stadtgrenze.

Doch während die U-Bahn gefeiert wird, steckt die Münchner S-Bahn fest. Es fehlt das Geld für neue Züge; die Stammstrecke zwischen Pasing und dem Ostbahnhof ist überlastet, und politische Konzepte vergammeln in den Schubladen. Bleibt es bei den Lippenbekenntnissen der Politiker, dann werden die neunziger Jahre das Jahrzehnt des S-Bahn-Abstiegs.

Bevor wir die trübe Zukunft schildern, werfen wir einen Blick auf die erfolgreiche Vergangenheit des MVV: In nur 20 Jahren entstanden in München die S- und U-Bahnen und lockten eine Menge Verkehr von den Straßen. Noch 1971, also ein Jahr vor der Olympiade und der MVV-Eröffnung, beförderte die Bundesbahn jeden Tag nur 170.000 Menschen. Heute sind es in S-Bahn und U-Bahn weit über eine Million täglich. Eine glänzende Bilanz, möchte man meinen.

Rosige Vergangenheit, düstere Zukunft

Doch die Trendwende naht. Vor allem in den Landkreisen um München, also im typischen S-Bahn-Bereich, sieht es für den MVV schlecht aus. Die letzte Fahrgastzählung im Jahr 1988 zeigte schon ein erschreckendes Ergebnis: Die Zahl derer, die mit der S-Bahn vom Umland in die Stadt fahren, geht zurück – erstmals seit Gründung des MVV. Die S-Bahn – das Verkehrsmittel der Vergangenheit?

Auch die Verkehrsexperten des ifo-Instituts geben eine triste Prognose. Ihre Berechnungen zeigen, dass im Jahr 2000 nur noch 31 Prozent aller Fahrten in der Region München mit Bus und Bahn erledigt werden. 1982 waren es noch 36 Prozent. Also fünf Prozent Verlust, der ausschließlich dem Straßenverkehr zugute kommt. Und das bedeutet riesige Autokolonnen: fünf Prozent – das sind jeden Tag etwa 300.000 Autofahrten, die dem MVV fehlen. Das Auto wird immer stärker; Busse und Bahnen haben keine Chance mehr.

Wie das? Da wird kräftig ausgebaut, Millionen fließen in neue U-Bahnen, und dann sowas? Die wichtigste Erklärung für das merkwürdige Phänomen: Immer mehr Menschen siedeln sich im Umland von München an. Während die Bevölkerung der Stadt gleich bleibt, wächst die der Region rapide.

Doch dort sind die Bahnverbindungen schlechter als in der Innenstadt. Das Auto wird unentbehrlich, weil die S-Bahn viele Orte nicht erschließt. Hier draußen, in Unterbrunn oder Mammendorf, in Moosinning oder Glonn hilft auch der Ausbau der U-Bahn nichts, denn sie beginnt erst hinter der Stadtgrenze. Zu oft bleibt nur das Auto.

Und wer an der S-Bahn eine Wohnung gefunden hat, steht vor vollen Zügen, die zu selten fahren. Der MVV wird unattraktiv, es beginnt der Abstieg der S-Bahn. Die schon erwähnte Verkehrszählung von 1988 passt in dieses Bild: „Die ermittelten sinkenden Fahrgastzahlen können ein Zeichen dafür sein, dass die Leute bereits sagen: Wir haben die Schnauze voll von den überfüllten Zügen“, erklärt Wolfgang Schneider, Verkehrsforscher des Instituts „Intraplan“. Die Trendwende ist erreicht.

Sorgenkind S-Bahn

Für die Verkehrspolitiker heißt das: Die S-Bahn muss besser werden. Doch da geschieht seit einigen Jahren nichts. Zwar liegen Pläne in den Schubladen, doch keiner nutzt sie.

Zum Beispiel das „S-Bahn-Konzept 2000“, ein realistisches Programm, das die Münchner Schnellbahn auf Trab bringen soll. Da liest man pessimistische Sätze, die jeden Verkehrsplaner aufrütteln müssten: „Strecken-, Stromversorgungs- und Zugsicherungsanlagen sowie der Wagenpark reichen bereits für die vorhandene Nachfrage nicht aus“, heißt es da. Und es kommt noch härter: „Ohne weitere zusätzliche Investitionen in das Münchner S-Bahn-Netz ist bereits in absehbarer Zeit mit der Abwanderung von Fahrgästen zu rechnen.“ Die Autoren dieser Sätze sitzen nicht etwa in der Fraktion der Grünen, sondern in der Verwaltung des MVV. Ihre wichtigste Forderung: Unbedingt mehr S-Bahn-Züge und ein verbesserter Takt.

Sie gaben ihr Alarmsignal schon 1986 – doch nichts geschah. „Sicher, wir sind absolut für das Konzept“, sagt Dieter Lippert, Geschäftsführer des MVV. Auch die Stadt München und die Bundesbahn unterstützen „S-Bahn 2000“ – doch der Geldgeber legt sich quer: „Der Eigentümer hat die Bahn zurückgepfiffen. Es war ein Kabinettsbeschluss aus Bonn, der das S-Bahn-Konzept unmöglich macht“, erläutert der MVV-Chef. Gleich 1983 hat die Regierung Kohl alle Projekte der Bundesbahn untersagt, die das Defizit erhöhen. Und damit sei auch „S-Bahn 2000“ gestorben, sagt Lippert.

Der Mann ist nicht zu beneiden. Sein Wissen um das S-Bahn-Problem nützt ihm nichts, solange der Bonner Verkehrsminister Sparzwang verordnet. Und vom jetzigen CSU-Minister Zimmermann ist keine Änderung zu erwarten. „Außer beim Flughafen München II bewegt sich beim S-Bahn-Ausbau gar nichts“, ärgert sich Lippert. Statt sinnvolle Verkehrspolitik zu starten, muss er einer wütenden Öffentlichkeit seit Mai eine Tariferhöhung verkaufen, die das jährliche MVV-Defizit von 380 Millionen Mark um magere 20 Millionen verringert.

Keine Chance für den S-Bahn-Ring

Nicht nur in der Region, auch in der Stadt steht die S-Bahn vor Problemen. Was hier vor allem fehlt, ist eine tangentiale Strecke. Eine Linie, die nicht geradlinig aufs Zentrum zusteuert und sich durch den überfüllten Tunnel quälen muss. Ein Weg: der S-Bahn-Ring. Seit vielen Jahren diskutieren Verkehrspolitiker, ob vorhandene Gleise nicht von einer Ring-S-Bahn befahren werden könnten. Doch die Diskussionen führten zu nichts.

Vor allem ein Südring wäre für die Stadt interessant: Hier würde die Strecke an der Donnersberger Brücke abzweigen und nacheinander alle sechs Linien der U-Bahn anschließen. Die Verbindungsbahnhöfe wären: Heimeranplatz (U4, U5), Poccistraße (U3, U6) und Kolumbusplatz (U1, U2). Am Ostbahnhof würde die Linie wieder einschleifen, und der Tunnel der Stammstrecke wäre erheblich entlastet. Lippert schätzt die notwendigen Investitionen auf 450 Millionen Mark.

Das Geld fehlt – doch die 460 Millionen für die Verlängerung der U3 nach Forstenried waren locker zu haben. Da zeigt sich eine kuriose und komplizierte Rechtssituation: Die S-Bahn gehört zur Deutschen Bundesbahn, während die U-Bahn von der Stadt München betrieben wird. Für die S-Bahn gilt also der Beschluss des Kabinetts „Keine neuen Defizite“. Für die U-Bahn gilt er nicht, denn da hat das Bundeskabinett nichts mitzureden. Damit ist bei der U-Bahn viel mehr möglich – eben auch 460 Millionen neue Investitionen.

Und das Münchner U-Bahn-Referat ist besonders clever im Auftreiben von Zuschüssen – so dass die Stadt am Ende nur einen geringen Teil der U-Bahn selbst zahlt. Den Rest finanziert vor allem der Bund – also die Institution, die den Ausbau der S-Bahn aus Geldnot untersagt.

Doch beim S-Bahn-Ring fehlt auch das politische Interesse, das nötige Geld zu beschaffen. Denn die Ringstrecke würde viele Münchner Verkehrsplaner aus dem Gleis werfen. Sie müssten dann auf gewohnte Prinzipien verzichten: „Seit zwanzig Jahren gibt es in München die Praxis, dass bei den tangentialen Verbindungen der Straßenbau Vorrang hat“, sagt MVV-Geschäftsführer Lippert. Nach kurzem Zögern ergänzt er: „Das ist zwar nicht in politischen Vereinbarungen festgelegt, doch es funktioniert auf diese Weise.“ Münchner Verkehrspolitik nach dem Motto: Das war schon immer so.

Der dritte und letzte Teil der Verkehrs-Serie folgt im nächsten STADTMAGAZIN. Visionen für den Münchner Verkehr? Von Betonköpfen, Asphaltplanern und dem Weg aus einer Sackgasse.


Stadtmagazin München 5 vom 30. November 1989, 18 f.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Umwelt

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