Materialien 1990

Selbstverwaltete Betriebe in München

In München existieren zwanzig bis dreißig selbstverwaltete Betriebe, die in fast allen Wirtschaftszweigen tätig sind. Es gibt Bäckereien, Buchläden, Copyshops, Druckereien, Elektrobetriebe, Fahrradläden, Ingenieurbüros, Maurerbetriebe, Schreinereien, Sprachschulen, Taxiunternehmen …

Die Betriebsgröße geht vom 3-Mensch-Betrieb bis zum 40-MitarbeiterInnen-Betrieb. Jeder Betrieb hat seine eigene Geschichte und seine Besonderheiten. Die meisten wurden vor ungefähr zehn Jahren aus der Alternativbewegung heraus gegründet.

Es ging um den Aufbau einer Gegenökonomie, die nach und nach den Kapitalismus verdrängen sollte. Der Wunsch nach menschenwürdigem Arbeiten und Leben, nach Produktion sinnvoller und umweltverträglicher Produkte, nach Überwindung hierarchischer Strukturen und der Entwicklung gleichberechtigter Entscheidungsabläufe, gleicher Lohn für alle Arbeiten, oder auch nur das Arbeiten ohne Chef und der Wunsch nach Selbstverwirklichung brachten immer wieder Menschen dazu, zusammen einen Betrieb zu gründen und ihren Arbeitsplatz selbst zu gestalten. Die Selbstverwalteten Betriebe schlossen sich im NETZWERK zusammen, um sich gegenseitig finanziell zu unterstützen, die Kollektividee zu verbreiten, sich zu vernetzen.

Der Kollektivalltag

Seit zwei Jahren arbeite ich als Bäcker in einem selbstverwalteten Betrieb. Wir stellen Vollkornmehlerzeugnisse her, backen aber auch konventionelles Weißmehlgebäck, wobei wir auf Chemie und industrielle Fertigprodukte verzichten. Unsere Arbeitszeit ist im Vergleich zu normalen Bäckereien noch human; wir fangen zwischen 5 und 7 Uhr an, machen um 10 Uhr Pause und haben zwischen 14 und 15 Uhr Feierabend.

Bei uns macht jedeR alle Arbeiten, obwohl wir Meister und Gesellen, Bäcker und Konditoren sind. Trotzdem ist es möglich, seine individuellen Schwerpunkte (Brotbacken, Tortengarnieren) zu setzen. Es ist auch möglich, neue Rezepte auszuprobieren.

14-tägig finden die Kollektivsitzungen statt, auf denen Personal- und Investitionsentscheidungen oder auch der alltägliche Kleinkram diskutiert und beschlossen werden. Dort werden auch die Probleme, die wir miteinander haben, beredet.

Organisatorische Arbeiten, wie Buchhaltung, Wareneinkauf oder die Dienstplanerstellung werden in „Ressorts“ aufgeteilt. Fast jede MitarbeiterIn hat ein Ressort, welches sie selbständig erledigt und bei Unlust abgeben kann.

Der Betrieb gehört allen, das heißt, alle Mitarbeiterinnen müssen eine Geldanlage zahlen, dadurch sind wir von Banken und Außenstehenden unabhängig; es gibt keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln.

Kritik

Selbstverwalteten Betrieben wird oft der Vorwurf gemacht, dass sie „Aussteiger“ ins kapitalistische System wieder integrieren würden, dass sie Selbstausbeutung betreiben würden und erkämpfte Arbeiterinnenrechte missachten würden und überhaupt nur eine Spielwiese für unzufriedene Mittelklassekinder seien.

Ich denke, diese Kritik ist zum Teil berechtigt, denn wir halten uns zum Beispiel nicht an den 8-Stunden-Tag, sondern arbeiten so lange, bis alles fertig ist, und sind in der Arbeitszeit sehr flexibel.

Die alltägliche Arbeit und die zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen saugen viel Kraft auf, so dass die Gruppe selten dazu kommt, nach außen zu gehen, sich zu gesellschaftlichen Kämpfen zu verhalten, obwohl sich Einzelpersonen in politischen Zusammenhängen organisieren.

Häufig tritt an die Stelle des Chefs der ökonomische Sachzwang und bringt das Kollektiv dazu, sich an die Gepflogenheiten der kapitalistischen Wirtschaft anzupassen.

Erwin

Literatur:
- Rolf Schwendter, „Die Mühen der Berge“ und „Die Mühen der Ebenen“, AG SPAK München, Kistlerstr.1
- Paul Cardan; „Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft“, MaD Verlag, Hassestr.22, 2050 Hamburg 80
- Scenepapier „Der lange Weg zum Kollektiv“
- Gunnar Berndsen, „Selbstverwaltung – die Basis einer befreiten Gesellschaft“, TROTZDEM-Verlag, Obere Weibermarktstr.3, 7410 Reutlingen
- Contraste, Monatszeitung für Selbstverwaltung, Heidelberg, Postfach 104520

Adresse:
Netzwerk München, Leonrodstr.19, 8000 München 19, Tel.: 16 8116


Stadtratte 3 vom Oktober/November 1990, 14.