Materialien 1990
Mit Polizeieinsatz gegen Andersdenkende ins Neudeutsche Reich
München, 3. Oktober 1990, 16.00 Uhr: Am „Platz der Opfer des Nationalsozialismus“ sammeln sich ca. 200 vorwiegend junge Menschen, die sich per Mundpropaganda vorher verständigt haben: Wir machen einen lautstarken Spaziergang gegen die Jubelfeiern zu Deutschland-einig-Vaterland. Einige haben Fahnen oder Plakate mitgebracht, auf denen das anschlagsrelevante Wort „Wider-
stand“ steht. Die vaterlandslosen Gesellinnen und Gesellen ziehen los. Vor der Feldherrnhalle, dem Hauptstadt-der-Bewegung-Symbol, zeigt ein Straßentheater auf, wer am meisten Interesse und am meisten Gewinn am Neudeutschen Reich hat: Kapitalisten vom Schlage Mannesmann und Konsorten. Die Passanten, offensichtlich gar nicht auf Deutschland-einig-Vaterland-Trip, amü-
sieren sich.
Aber: Big German father is watching you!
In der Weinstraße plötzlich Polizei, die Leine zieht – ausgerechnet eine rote! Und das, obwohl die Spaziergänger rufen: „Feuer und Flamme für Großdeutschland“.
Rund um die rote Absperrungsschnur, die verhindern sollte, dass die Spontandemo bis zum Mari-
enplatz kommt, gab’s erregte Diskussionen um diese Polizeimaßnahme. Die Polizei wusste sich schließlich nicht anders zu helfen, als ca. 20 Leute willkürlich festzunehmen – darunter auch Passanten. Ca. vier Leute meinten sie wohl als „Rädelsführer“ ausmachen zu können, den Rest nahmen sie angeblich als „Zeugen“ mit.
So schlimm die Festnahmen für die Betroffenen waren – für die Münchner Polizei waren sie es fast ebenso. Denn die Passanten – Münchner wie Auswärtige – waren leicht geschockt. Die Stimmung: „Die jungen Leute haben nachweislich nichts getan – keine Schaufensterscheibe ging zu Bruch, nichts, nichts. Uns haben sie nicht gestört mit ihrer ,Demo’. Passanten mit sächsischen Akzent sprachen vom „Polizeistaat“. Natürlich gab es auch die anderen, die brüllten: „Geht’s doch nach drüben!“ Peinlich, peinlich, am „Tag der deutschen Einheit“ … !
Fazit: Die Festnahmen waren eine neue Qualität, die des Neudeutschen Reiches. Spontandemos gab’s schon immer, sie sind auch völlig legal. Vor der großdeutschen Zeitrechnung wurden sie – ja nach der politischen Großwetterlage – geduldet (z.B. als sich ein Umschwenken in der WAA-Politik abzeichnete) oder aber die Polizei forderte über Lautsprecheranlagen auf: „Dies ist eine unange-
meldete Demonstration, bitte entfernen sie sich.“
In den frühen Morgenstunden des 4. Oktober waren die Festgenommenen wieder auf freiem Fuß.
(chh)
Münchner Lokalberichte 21 vom 17. Oktober 1990, 4.