Materialien 1990
Alte Rechnungen
Friedensbewegung
Rüstungsgegner werden auch nach Jahren noch verfolgt und kriminalisiert
Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit streiten engagierte Mitglieder der Friedensbewegung immer noch für die Rechtmäßigkeit ihres Protestes gegen die Raketenstationierung. Längst können zwar die konservativen Parteien das Feindbild „Kommunist“ nicht mehr an die Wand malen und faseln von Abrüstung, trotzdem bleiben die Gerichte, allen voran wieder einmal die des Freistaates, bei ihrer harten Linie. Während die Brüder und Schwestern drüben für ihre friedliche Revolution und ihre Demonstrationen nicht genug von den hiesigen Politikern gelobt werden können, werden Mitglieder der bundesdeutschen Friedensbewegung nach wie vor zu Kriminellen gestempelt.
Für das Bayrische Oberste Landesgericht sind gewaltfreie Sitzdemonstrationen eben, ganz im Sin-
ne der bayerischen Staatsräson, verwerfliche Gewalt. Diese „Leitlinie“ wollen die sturen Richter auch durchgesetzt wissen. Sie können jetzt zufrieden sein. Nach drei Jahren haben sie nun ihr Ziel im Fall des 40ährigen Mitglieds der Münchner Friedensbewegung, Karl Wenning, erreicht. Der junge Richter, Horst Weidenkaff, sprach endlich eine Verurteilung aus. Zuvor wurde der ehemalige Sozialpädagoge Wenning nämlich dreimal vom Vorwurf der öffentlichen Aufforderung zu Gewalt-
taten freigesprochen.
Im März 1987 hatte der gebürtige Dachauer Flugblätter verteilt, auf denen zu gewaltfreien Sitz-
blockaden vor ABC-Waffenlagern aufgerufen wurde. Dreimal entschied das Gericht, dieser Aufruf sei keine „verwerfliche Gewalt“. „Ich meine, dass sehr viele Leute es als Gewalt ansehen, wenn ein Mensch aus einer Menschenkette sich ihnen plötzlich in den Weg stellt“, argumentiert dagegen Staatsanwalt Alfred Mützel in der entscheidenden Verhandlung gegen den Rüstungsgegner. Der sichtlich nervöse Richter Weidenkaff ringt sich danach zu einem ziemlich obskuren Urteil durch: Karl Wenning wird verwarnt und soll 250 Mark Geldstrafe bezahlen, falls er innerhalb von zwei Jahren noch einmal vor dem Kadi steht. Außerdem soll er für sämtliche Gerichtskosten aus allen Instanzen zur Kasse gebeten werden.
An diesem Punkt wird die Situation vollends absurd. Denn Wenning bezahlt damit für die „Rechts-
unsicherheit“, die von Anfang an in Sachen „gewaltfreie Blockaden“ bestand. Immer wieder wurde das Verfassungsgericht Karlsruhe angerufen, sollte der Bundesgerichtshof Ordnung in den Rechts-
wirrwarr bringen. Anfangs werden nach dem sogenannten „Laepple-Urteil“ – darin ist vom „Terror von Minderheiten“ die Rede – alle gewaltfreien Blockaden in Bausch und Bogen verurteilt. Einzel-
ne Amtsrichter und Landgerichte beginnen jedoch bald die Demonstranten freizusprechen. Als sich die Verfassungsrichter in Karlsruhe im November 1986 mit der Streitfrage „Sind friedliche Sitzdemonstrationen Gewaltanwendung und verwerflich?“ befassen müssen, bleibt die rechtliche Situation nach wie vor unübersichtlich. Die acht Verfassungsrichter können sich nämlich nicht einigen, es kommt zu einem Patt: Vier Richter sind gegen eine Verurteilung, die anderen vier be-
zeichnen die Blockaden nach wie vor als „verwerfliche Gewalt“.
In der Praxis bedeutet dies, dass die Gerichte in den einzelnen Bundesländern freisprechen oder verurteilen, je nachdem ob sie sich auf die vier „Pro-“ oder die vier „Contra“-Richter beziehen. Das Chaos war perfekt. Im Mai 1988 soll dann endgültig wieder hart durchgegriffen werden. Drei ältere Männer am Bundesgerichtshof entscheiden, dass die Motive, die sogenannten Fernziele der Blok-
kierer bei deren Verurteilung nicht berücksichtigt werden sollen. Obwohl kein Gericht gesetzlich an diese Entscheidung gebunden ist, werden die Mitglieder der Friedensbewegung danach wieder stärker kriminalisiert und abgeurteilt.
Bereits damals bezeichnete der engagierte Münchner Rechtsanwalt Frank Niepel diese Entschei-
dung als „verfassungswidrig“. Der Anwalt, der selbst engagiertes Mitglied der Friedensbewegung ist, will eine Gesetzesänderung erreichen. Nicht der Angeklagte, wie Karl Wenning, soll bei dieser „Rechtsunsicherheit“ die Verfahrenskosten tragen, sondern die Staatskasse. Doch davon wird der Münchner Horst Esser noch nicht profitieren. Ihm drohen sechs Monate Beugehaft, weil er sich weigert seine Gerichtskosten in Sachen „friedliche Sitzblockade“ zu bezahlen. Der couragierte Ab-
rüstungsverfechter war außerdem zehn Tage im Gefängnis Stadelheim, um seine Ersatzfreiheits-
strafe abzusitzen. Aber noch zwei weitere Münchner Rüstungsgegner sitzen im Knast. Und dem-
nächst wird auch wieder vor dem Landgericht München gegen zwei Frauen aus der Friedensbewe-
gung verhandelt.
Luitgard Koch
Stadtmagazin München 4 vom 22. Februar 1990, 16.