Materialien 1990

„Aufrechter Gang“

Im Oktober hat der Ortsverband München zum dritten Mal den Preis „Aufrechter Gang“ verliehen; diesmal an Hannes Fischer. Warum, das erläutert Hartmut Bäumer in seiner Laudatio.

Wenn in diesem neuen Deutschland, noch dazu in München, ein Preis für den „Aufrechten Gang“ verliehen wird, hat das durchaus etwas zweideutiges. Zum einen zeigt es, dass „Aufrechter Gang“ keineswegs gesellschaftliche Realität ist, sonst wäre diese Haltung kaum preis-würdig. Zum ande-
ren belegt es, dass es heute viele Menschen gibt, die sich mit der Preisverleihung offen und von Herzen mit einer Haltung, die gegen den Strom schwimmt, solidarisieren, ja sie feiern. Und dies, obwohl weit verbreitet staatlicherseits die Auffassung vertreten wird, dass das, wofür Hannes Fi-
scher heute geehrt wird, nichts anderes als schlicht rechtswidriges Verhalten ist und dementspre-
chend zu bestrafen sei.

Ich freue mich, dass wir gemeinsam in diesen deutschen Landen immerhin so weit gekommen sind, uns von derartiger staatlicher Bevormundung frei zu machen, und ich freue mich persönlich sehr, hier die Laudatio auf einen Menschen halten zu können, der, wie wenige, seine gesamte Energie dem Ziel unterworfen hat, die Menschen wachzurütteln, sie von der drohenden nuklearen Selbstzerstörung abzuhalten.

Hannes Fischer hat 1982 die Entscheidung getroffen, sein bis dahin erfolgreiches bürgerliches Da-
sein als Systemprogrammierer aufzugeben und sich vollkommen der Friedensarbeit zu widmen. „Vollkommen“ heißt hier mehr als bei den meisten der vielen Millionen anderen Nachrüstungsgeg-
ner, es heißt, sich und seine ganze Existenz dem staatlich verordneten Wahnsinn des nuklearen Holocausts entgegenzustellen. Es heißt auch, bewusst gegen bürgerliche Normen zu verstoßen und durch diese Art zivilen Ungehorsams die Mitmenschen aufzurütteln, zum Nachdenken zu bewegen. Hannes Fischer setzt sein Leben damit genau in dem Sinne für den aufrechten Gang der Mensch-
heit ein, wie das Ernst Bloch – für mich der deutsche Philosoph des aufrechten Gangs in diesem Jahrhundert – in seinem Vorwort zu „Naturrecht und menschliche Würde“ beschrieben hat: „Es gibt so wenig menschliche Würde wie menschgemäßes Glück ohne das Ende alter oder neuer Un-
tertänigkeit.“

Die Erkenntnis, dass seine Arbeit und sein kritikloses Weiterentwickeln von Computersystemen mit dazu beiträgt, die nukleare Kriegsgefahr zu erhöhen und damit immer neue Not, Elend und Bedrohung in der Welt schafft, hat Hannes Fischer veranlasst, sein bis dahin unpolitisches bür-
gerliches Leben radikal umzukrempeln. Er hat damit menschlicher Würde den Vorzug vor saturier-
ter Zufriedenheit gegeben.

Das ging, wie alles in seinem Leben, nicht von heute auf morgen. Suchend und tastend bewegte er sich in den Jahren von 1982 bis 1985 in verschiedenen Gruppen der Friedensbewegung. Er fuhr mit GRÜNEN und anderen nach Wackersdorf und zu den Pershing II-Depots, besonders in Mut-
langen. Dort wurde ihm klar, dass ihm manche Diskussionszirkel der Friedensbewegung zu betu-
lich waren angesichts der riesigen Bedrohung. Er schloss sich zwei Münchner Gruppen, der Kam-
pagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“ und später auch der in München tätigen Gruppe „Öffentliche Aufforderung zur Blockade“ an. Diese drei Gruppen – vor allem die letztgenannte, die besonders mit täglichen Mahnwachen in München bekannt, ja berühmt geworden ist – stellten fortan den moralischen und politischen Hintergrund Hannes Fischers Friedenseinsatz dar. Dort kam er mit der Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion, mit den Lehren und dem Werk von Ghandi und Martin Luther King in Berührung.

Inzwischen hat er an etwa 100 Sitz-Blockaden, vor allem in Mutlangen, teilgenommen, eine Viel-
zahl von Verfahren, insbesondere wegen sog. Nötigung und auch einige Verurteilungen über sich ergehen lassen müssen. Im Jahr 1989 ging Hannes Fischer fast drei Monate in Haft, nachdem ein Münchner Richter meinte, ihn wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Aufforderung zur Blockade entsprechend verurteilen zu müssen. Der Hintergrund dieser Verurteilung war, dass Hannes Fischer zu einer gewaltfreien Blockade eines Pershing-Depots aufgerufen hatte und genau diesen Sinn und Zweck seiner Aktion den umstehenden Passanten zurief, als Polizisten ihn wegtru-
gen. Die dreimonatige Haftzeit in Stadelheim haben seinen aufrechten Gang, seine Gewissheit, für ein anderes ziviles Umgehen der Völker miteinander auch durch Ungehorsam streiten zu müssen, nicht gebrochen. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch bei ihm dort im Gefängnis in einer Phase, in der ihm die Staatsmacht mit allen nur möglichen Schikanen das Leben schwer machte, keine Briefe, keine Bücher, Einzelarrest. Das nagte schon an ihm. Nicht zuletzt die Hilfe von außen – ich nenne hier stellvertretend für alle Friedrich Müller und Nelly Limmer – haben ihm geholfen, diese schwere Zeit zu überstehen und weiterzumachen.

Hannes Fischer wollte und will nicht untertänig werden. Er setzt dem gerichtlichen Vorwurf, Ge-
walt anzuwenden im Sinne des § 240 StGB sein unbeugsames „Stoppt diese mörderische Rüstung“ entgegen. Gewicht verleiht er seiner Position vor allem durch seine Haltung, seine praktizierte Form des Protests: den zivilen Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam, meine Damen und Herren, wird hierzulande seit den Blockaden der Friedensbewegung von der Gesellschaft akzeptiert. Von einem Großteil der staatlichen Ordnungshüter, den Anhängern eines autoritären Legalismus, wie Haber-
mas sehr treffend gesagt hat, aber als kriminelles Unrecht verfolgt. Wie sehr hier die öffentliche Meinung und so manche Gerichtsurteile auseinanderklaffen, beweist eine kürzlich durchgeführte Infas-Umfrage. Danach sieht nur noch eine Minderheit von 24 Prozent der Befragten Sitzblocka-
den vor Atomwaffendepots als verwerflich an und möchte, dass sie als Nötigung bestraft werden. Dies hindert bis heute vor allem den Bundesgerichtshof nicht, genau von dem Gegenteil auszuge-
hen, nämlich eine strafbare Nötigung im Sinne des § 240 StGB anzunehmen. Da ist die demokra-
tische Entwicklung in den USA doch sehr viel weiter. Seit Harry David Thoreau „Die Idee des civil disobedience“ im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei propagiert hat, und seit Martin Luther King sie weiter praktiziert hat, ist der zivile Ungehorsam in den Vereinigten Staaten ein Teil der demokratischen Kultur geworden. Er hat auch Eingang in die juristische Diskussion gefunden. John Rawls beschrieb sie in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ unter anderem als gewaltfreie Gesetzesübertretung, wenn anderweit bestehende menschenrechts- oder sittengesetzeswidrige Zustände nicht behoben werden können, und wenn diejenigen, die sich des zivilen Ungehorsams bedienen, zugleich bereit sind, die staatlichen Sanktionen in Kauf zu nehmen. Ziviler Ungehorsam benutzt den „Ungehorsam“ gleichsam als Mittel zur Herstellung von Öffentlichkeit gegen schreien-
des Unrecht. Ein derartiges Verhalten, z.B. durch Sitzblockaden vor Militäreinrichtungen als Ge-
walt anzusehen, bleibt vor allem deutschen Juristen vorbehalten. Anstatt sich über die Legitimität staatlich verordneten Selbstmordes Gedanken zu machen, dreht sich die Diskussion allein um die von vornherein in Frage gestellte Legalität des angeprangerten Protestverhaltens. Damit wird die große demokratische Chance vertan, das Handeln dessen, der hier bewusst bestehende Normen übertritt, als das zu sehen, was es ist: Ungehorsam für die Menschen und nicht falscher Gehorsam gegen die Menschen.

Ich möchte aber an dieser Stelle auf keinen Fall die positiven Folgen des Protests und auch die positive juristische Aufarbeitung der Nachrüstungsdebatte unerwähnt lassen.

Der zentrale Erfolg unser aller Bemühungen ist für mich die Tatsache, dass die Mittelstreckenrake-
ten inzwischen tatsächlich abgebaut werden und jetzt auch Hoffnung auf weitere Abrüstungsschrit-
te besteht. Egal, wie Herr Kohl oder andere Regierungsvertreter diese Entwicklung einschätzen mögen – ich mag mich mit ihnen nicht um Lorbeeren streiten – ohne den Friedenseinsatz von Millionen Menschen und ohne den Mut derer, die auch staatliche Sanktionen in Kauf nahmen, wäre der notwendige Druck auf Politiker aller Staaten, der überhaupt erst zum Handeln Anlass gab, nicht zustande gekommen.

Und noch etwas Positives gibt es zu vermerken – auch wenn beileibe nicht von einer tatsächlichen weltweiten Abrüstung, die unser Ziel bleibt, geredet werden kann. Die deutsche Justiz und hier nicht zuletzt auch die RichterInnen haben in der juristischen Auseinandersetzung eben nicht nur unisono dem autoritären Legalismus gefrönt, sondern in großen Teilen Selbständigkeit und damit den Kern dessen, was richterliche Unabhängigkeit heißt, bewiesen. Nicht nur, dass heute, trotz anderslautender BGH-Rechtsprechung, nur noch ein Teil dieser Gerichte zu Verurteilungen wegen Nötigung bei Blockaden vor Raketendepots kommt, nicht nur, dass immerhin genau die Hälfte der Richter des angerufenen Senats des Bundesverfassungsgerichts gegen die Annahme einer verwerf-
lichen Nötigung votierte (was leider für eine Umkehr der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht ausreichte), nein, auch Richter selbst haben bewusst an einer Blockade in Mutlangen teilge-
nommen, sind verurteilt worden und haben z.T. – geringe – Disziplinarstrafen hinnehmen müs-
sen. Besonders erfreulich ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung der neuen Berliner Kammergerichtspräsidentin. Sie hat das Disziplinarverfahren gegen einen der an der Richterblok-
kade beteiligten Richter nicht nur einfach eingestellt, sondern dies auch mit einer Begründung getan, die ich Ihnen heute hier nicht vorenthalten möchte. Frau Knobloch führt in der Einstel-
lungsverfügung u.a. aus:

„Ausschlaggebend ist für mich jedoch, dass Sie nicht in Verfolgung wirtschaftlicher oder anderer eigennütziger Ziele gehandelt haben, sondern es Ihnen um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage ging, wobei Sie aus ernsthafter Sorge über die atomare Hochrüstung und um den Erhalt des Friedens die Demonstration durchgeführt haben“ (so Urteil des Landgerichts Ellwangen, S. 11). Die in der Rechtsprechung behandelten und in der Literatur als Beispiele für ein Dienstvergehen angeführten Fälle sind dagegen fast durchweg da-
durch gekennzeichnet, dass die Dienstverletzungen aus eigennützigen Motiven begangen wurden.

Davon kann bei Ihrer Dienstpflichtverletzung keine Rede sein. Zweck Ihres Vorgehens war es nach den Feststellungen des Landgerichts Ellwangen im Gegenteil, dem Gemeinwohl zu dienen. Das spricht gegen die Annahme, dass Ihr Handeln „in besonderem Maße“ zur Beeinträchtigung des Vertrauens in das Amt des Richters und das Ansehen der Richterschaft geeignet war. Diese Ansicht sehe ich dadurch bestätigt, dass Ihnen wegen Ihres Verhaltens von der Berliner Sektion der „Inter-
nationalen Liga für Menschenrechte“ im Oktober 1987 die Carl-von-Ossietzki-Medaille verliehen worden ist. Denn dies belegt, dass Ihr Vorgehen nicht nur von einer Vielzahl von Berufskollegen, sondern auch von anderen Teilen der Öffentlichkeit nicht als dem Amte des Richters und dem An-
sehen der Richterschaft abträglich gewertet worden ist.“

Ich glaube, es ist nicht hoch genug zu bewerten, dass sich mit derartigen Begründungen die deut-
sche Justiz zumindest in Teilen offen für neue gesellschaftliche Bewertungen zeigt und zugleich ihre bisherige Staatsgebundenheit relativiert.

Für mich ist Ungehorsam seit jeher ein entscheidendes Mittel zur Weiterentwicklung der Mensch-
heit. Ob nun Galileo gegen den Papst ungehorsam war, der Sklave die Kette brach oder der heutige Mensch sich gegen die Selbstvernichtung durch Waffen oder Naturzerstörung wendet, immer wa-
ren es in diesem Sinne die Ungehorsamen, die letztlich moralisch und physisch zum Überleben von uns allen beitrugen. Angesichts der heutigen Bedrohung kann es gar nicht genügend Ungehorsame geben. Ungehorsam als Tugend, ganz anders, als es uns die Erziehung weismachen will, ist es, was wir alle so sehr brauchen. Es geht, wie Sie sich sicher denken können, meine Damen und Herren, bei diesem Appell nicht darum, blinden Ungehorsam gegenüber gesellschaftlichen Normen und Gesetzen zu fordern. Nein, es geht darum, den Rücken zu stärken für eine demokratische Kultur im Lande, die heißt: Auch die demokratisch mehrheitlich Gewählten können irren, auch sie müssen sich der Überprüfung ihrer Entscheidung unterziehen und dies vor allem dann, wenn irreversible, unser Überleben bedrohende Entscheidungen getroffen worden sind oder getroffen werden sollen.

In diesem Sinne ist Hannes Fischer ein Vorbild für uns alle. Denn nur die grundlegende Verände-
rung der bestehenden Zustände verheißt einen Weg in eine wirklich sichere und freie Zukunft. Nie-
mand hat das besser ausgedrückt als Erich Fried, als er sagte: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.“

In diesem Sinne einer Veränderung zum dauerhaften Bleiben gebührt Dir, Hannes, unser Dank.

Hartmut Bäumer


Mitteilungen der Humanistischen Union 132 vom Dezember 1990, 67 f.