Materialien 1990

Die Besetzung

Am Mittwoch, den 21. Februar 1990 besetzten mehrere Leute gegen 11 Uhr die leerstehenden Häuser Orleansstraße 65a und b in Haidhausen, die sich im Besitz der Stadt befinden und seit zwei Jahren unbewohnt sind. Argument: Baufälligkeit.

Die BesetzerInnen forderten von der Stadt die Häuser, um sie in Eigeninitiative zu renovieren und sie so vor dem Verfall zu retten. Parallel zur Besetzung wurde diese mit Tausenden von Flugblättern und Plakaten publik gemacht, die Medien erhielten detaillierte Informationen. Gleichzeitig wurde eine Delegation der BesetzerInnnen zu Kommunalreferent Georg Welsch (Die Grünen) geschickt, um mit ihm über Nutzungsverträge für die beiden Häuser zu verhandeln. Nach telefonischer Rücksprache mit seinem Chef Kronawitter war Welsch auch zu Verhandlungen bereit und konnte sogar zusichern, dass zumindest vorläufig nicht geräumt werden würde. Trotzdem räumte die Polizei gegen Mittag ohne Vorwarnung die Häuser. Als nachträgliche Rechtfertigung diente eine Beschwerde der Hausmeisterin des Nebenhauses, die diese später aber dementierte. Laut einem Bericht der „Haidhauser Nachrichten“ sei sie erst durch einen Anruf aus dem Kommunalreferat aufmerksam geworden und habe sich auch nicht bedroht gefühlt. In einem zweiten Anruf — diesmal von der Polizei — wurde ihr Mann aufgefordert, das Haus 65a von innen zu öffnen, was er nach eigener Aussage bei einer richtigen Einschätzung der Situation auch nicht getan hätte.

Die Polizei durchsuchte Keller, Wohnungen und Speicher und nahm schließlich zwei Frauen und sieben Männer auf einem Dachboden in der Spicherenstraße fest. Nach dieser Räumung brach Welsch die Verhandlungen ab, da ihm der Eigenkapitalvorschlag der Gruppe zu niedrig war.

Die GRÜNEN stellten sich in einer Presseerklärung voll hinter Welsch und protestierten gleichzeitig energisch gegen die eigenmächtige Einmischung der Polizei in die Belange der Stadt. Die BesetzerInnen selbst sprechen von einer offenkundigen Lüge, mit der sich die Münchner Polizei eine eigenmächtige Eingriffsgrundlage zur Räumung geschaffen habe. OB Kronawitter rechtfertigte die schnelle Räumung im nachhinein und kündigte auch für die Zukunft eine harte Linie an. Im übrigen stellte er nach der Räumung Strafantrag, „damit so etwas nicht einreißt“.

(Am 5. April waren die Häuser in der Lilienstr. 7, in der Einsteinstr. 45 und in der Orleansstr. 65a/b kurzfristig besetzt. Mit der Aktion sollte die Forderung nach längerfristigen Nutzungsverträgen für die Orleansstr. 65a/b unterstützt werden.)

Das Projekt

Die Pläne und Forderungen der BesetzerInnen der Häuser in der Orleansstraße wurden mittlerweile von der Initiative „Steinläuse“ zu einem Konzept ausgearbeitet, das das Projekt „Kollektives Wohnen und Arbeiten in der Orleansstraße 65 a/b“ verwirklichen soll.

Die „Steinläuse“ sind etwa vierzig Menschen zwischen achtzehn und vierzig Jahren, die aus allen Berufsschichten kommen oder noch in der Ausbildung sind. Um ein gemeinschaftliches Leben verwirklichen zu können, wobei für sie Wohnen und produktives kulturelles Schaffen zusammengehören, wollen sie die beiden Häuser gemeinsam in Selbstverwaltung instandsetzen und langfristig nutzen, wobei eine Bewirtschaftung als Genossenschaft angestrebt wird.

Die Häuser bestehen aus einem vierstöckigen Vorder- und einem dreistöckigen Hinterhaus mit insgesamt etwa zwanzig Wohneinheiten, das bei einer Realisierung des Konzepts mindestens achtzig Menschen das Leben in kollektiven Wohnformen ermöglichen würde. Geplant ist:

> Gemeinschaftsräume, eine Bibliothek und eine Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss,

> Kinderspielzimmer und Büroräume für Organisation und Verwaltung im Hinterhaus,

> Waschküche, Hauswerkstatt, Abstellflächen, Platz für Filmvorrührungen und Band-Übungsräume in den Kellerräumen,

> die selbstverwalteten Betriebe — Druckerei und Fahrradwerkstatt, sowie eine Lebensmittelinitiative — in den Gebäuden im Hof,

> Begrünung des Hinterhofs,

> ein Kinderspielplatz,

> Renovierungsmaßnahmen unter ökologischen Gesichtspunkten,

> eine Sonnenkollektoranlage für Raumheizung und Wasserbereitung.

Eine Begehung durch einen staatlich anerkannten Prüfer hat bereits stattgefunden und bestätigte einen erstaunlich guten Zustand. So konnte eine Treppe, die vorher als einsturzgefährdet eingestuft wurde, eine Prüfung mit gutem Resultat „absolvieren“. Es wurde festgestellt, dass die Häuser sofort bezogen werden könnten, obwohl sie zwei Jahre leer standen.

ds


Stadtratte 1/Juni 1990, 8 f.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Hausbesetzungen

Referenzen