Materialien 1990
Irrungen und Wirrungen
Kurz zur Geschichte: Am 21. Februar besetzte eine Gruppe von Leuten das Haus in der Orleansstraße 65 a. Gleichzeitig wurden im Stadtrat Verhandlungen mit dem grünen Kommunalreferenten Welsch über die Nutzung des Hauses geführt. Nachdem die Polizei noch während dieser Verhandlungen das besetzte Haus eigenmächtig geräumt und auf dem Speicher des Nachbarhauses neun Leute festgenommen hatte, stellte OB Kronawitter sozusagen als Rechtfertigung Strafanträge gegen die vermeintlichen HausbesetzerInnen.
Trotzdem kam es später noch einmal zu Verhandlungen mit Welsch, die sich als ausgesprochen zäh erwiesen. Dabei erklärte sich Welsch dann doch bereit, Nutzungsverträge mit uns zu unterzeichnen. Doch er rechnete wohl nicht (oder vielleicht gerade doch?) mit Kronawitters darauf folgender Absage, in der er Verhandlungen mit HausbesetzerInnen und deren Umfeld strikt ablehnt.
Nachdem klar war, dass auf dieser Verhandlungsebene nichts mehr laufen würde, schlossen wir uns mit einer neugegründeten gemeinnützigen GmbH, dem Wohnforum, zusammen. In ihm haben sich sechs Gruppen zu einem Wohnprojekt zusammengeschlossen, um kollektives Wohnen zu verwirklichen. Das Wohnforum wird von der EG und unter anderem auch von der Stadt finanziell getragen. Aus diesem Grund, und um die immer noch leerstehende Orleansstraße 65a aus den Schlagzeilen zu bringen, bot die Stadt nun das Haus dem Wohnforum zur baldigen Nutzung an.
So kam es, dass sich Stadtmonarch Kronawichtl herabließ, das „Projekt Wohnforum“ zu genehmigen. Auf der kommenden BürgermeisterInnenkonferenz gab er daher seine Zustimmung für die baldige Nutzung des Anwesens, das heißt einer Nutzung auch mit uns.
Die Sommerpause und der bürokratische Verwaltungsapparat machten es jedoch möglich, die Fertigstellung der Nutzungsverträge ständig hinauszuschieben. Und auch die Landtagswahlen mussten schließlich dafür herhalten, einen weiteren Grund für weitere Verzögerungen zu liefern.
Doch damit nicht genug. Inzwischen schalteten sich auch die Sicherheitsbehörden ein. Den Anfang machte Polizeipräsident Koller in Form eines Briefes an den OB, in dem er behauptete, selbstbestimmte Wohnprojekte würden immer auch ein „Sicherheitsrisiko“ darstellen, deswegen müsste er selbstverständlich in die Planung mit einbezogen werden. – KEIN KOMMENTAR!
- Und auch Kreisverwaltungsreferent Uhl wollte in diesem Hick-Hack nicht zu kurz kommen. Er erkannte, dass er Kraft seines Amtes unbedingt kontrollieren müsse, wer mit wem in München zusammenwohnt. Zu diesem Zwecke ließ er sich mittels Amtshilfe von Polizei und Justizbehörden sämtliche Akten über Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Vereins „Steinläuse“ vorlegen. (Ein Ermittlungsverfahren ist aber noch lange keine Verurteilung!)
Diese sogenannten „Erkenntnisse“ ließ er dann in der Öffentlichkeit als erwiesene Taten verbreiten. Und wie so oft hat natürlich auch der Verfassungsschutz irgendwie und irgendwann seine Hände im Spiel. Dieser bemühte sich besonders, uns als Kriminelle darzustellen, und legte dem Kronenwidder, natürlich nicht nachprüfbare, Unterlagen aller Vereinsmitglieder vor.
Als diese Hetzkampagne nun öffentlich groß genug angelaufen war, durfte eine Stimme, die des „Freistaates“ Bayern, natürlich nicht fehlen. Und prompt schrieb auch Innenminister Stoiber ein als Pressemitteilung getarntes Pamphlet, in dem er die Sicherheitsbedürfnisse des Freistaates gefährdet sah – und damit selbstbestimmtes Wohnen wieder mal zu verhindern suchte und als Feindbild aufrechterhält.
Mit dieser wortgewaltigen Unterstützung konnte nun auch Kronawitter nach den Landtagswahlen endlich wieder zu seiner heißgeliebten „eisernen Linie“ zurückkehren.
IHRO GNADEN KRONAWICHTL VON UND ZU MÜNCHEN verlautbarte nun abermals, dass er niemals missliebige Untertanen in seinen städtischen Anwesen dulden werde.
Nach diesen massiven Eingriffen ist vom ursprünglichen Projektziel, selbstbestimmtes Wohnen in München zu ermöglichen., nichts geblieben. Das Wohnforum, unfähig angemessen zu reagieren, zog sich, wie es so seine Art zu sein scheint, ängstlich in seine bürokratische Nische zurück.
Die anderen am Wohnforum beteiligten Gruppen – „Stadtteilinitiative Alleinerziehende Frauen Haidhausen“ / ERGO, Frauen leben im Alter zusammen/ „Arbeitskreis Ausländerfragen Haidhausen“/ Graue Panther – haben daraus die Konsequenz gezogen und sich entschlossen, ein staatlich zensiertes Projekt vorerst nicht durch ihre Teilnahme zu unterstützen. Damit solidarisieren sie sich mit den Steinläusen und erklären, unter diesen Umständen nicht mit Nutzungsverträgen in die Orleansstraße 65a einziehen zu wollen.
HOCH LEBE DER KRONAWICHT (und sein Umfeld)!
Die Steinläuse
Stadtratte 4 vom Dezember/Januar 1990/91, 4.