Materialien 1990
Schnorr ein Jahr
Als sich im Frühling 1989 nach und nach zwanzig Jugendliche zusammenschlossen, um ein leerstehendes Haus in Englschalking als Treffpunkt zu nutzen, waren die Hoffnungen groß und die Leute gingen frei aus dem Bauch heraus und ohne hochtrabendes Konzept an das Projekt heran. Mittlerweile sind aus stillen BesetzerInnen & lauten RenoviererInnen traurige KriegerInnen geworden, zermürbt von den Hinhaltetaktiken der Stadt und von den Schiebereien undurchsichtiger Immobilienhändler. Wird der Atem der Kulturgruppe Englschalking reichen?
Fast wär ich restlos ausgerastet, als ich eher zufällig im Amtsgericht München auf folgende Informationen gestoßen bin. Ein Kaufmann namens Erich Kaufmann ist eines von sieben Mitgliedern des „German Open Golf Club“. Was ist daran so aufregend?
Ja, was eigentlich, denke ich jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe. Doch an jenem Junivormittag war mir der Kopf voll von der Euphorie, dass wir sie jetzt hätten.
Wer sind wir und wer sind sie?
(Wir sind das V.o.l.k., hoho …) Wir, das sind Jugendliche aus Englschalking und Umgebung, und seit über einem Jahr kämpfen wir mal mehr, mal weniger diplomatisch für ein selbstbestimmtes Kultur- und Stadtteilzentrum in Münchens Nordosten. „Kämpfen“ heißt momentan nicht, dass wir den zuständigen Referenten der Stadt in die Ellenbogen schießen oder Spekulanten öffentlichkeitswirksam erhängen. Stattdessen stellten wir in Versammlungen und Ausschüssen ungezählte Anträge für die Erhaltung und Nutzung des Schnorrhauses, jenes über neunzig Jahre alte Haus in Englschalking, in dem wir eigentlich zusammen mit der Bevölkerung beginnen wollten, unsere Kultur und unseren Stadtteil selbst zu bestimmen. Wir machten Feste für dieses Haus, dass es nur so rauchte (nicht das Haus), bauten (zu wenige) Kontakte zu den Leuten aus der Gegend auf, malten und sangen auf der Straße und verfassten kistenweise Info-Material.
Bis zuletzt blieben uns jedoch die Zusammenhänge der Eigentumsverhältnisse verborgen, bis, ja, bis ich eines Junimorgens …
Sie, das sind Spekulanten erster Klasse. Im einzelnen:
Im Jahr 1985 erwarb der Kaufmann Erich Kaufmann das Schnorrhaus samt 3.000 m2 großem Grundstück. Der Preis betrug ca. DM 1,9 Mio. Die damaligen BewohnerInnen des Hauses, mehrheitlich italienische Putzfrauen, wurden fristlos auf die Straße gesetzt.
Zur selben Zeit in derselben Stadt: Prozesseröffnung gegen zehn Führungspersönlichkeiten der Bayerischen Raiffeisenzentralbank (BRZ). Anklagepunkt: Unlautere Vergabe von Krediten an Bau- und Immobilienfirmen in Millionenhöhe. Dickster Brocken davon: 1,2 Mio. für den Kaufmann Erich Kaufmann.
Wiederum zur selben Zeit: die Firma des Kaufmanns Erich Kaufmann meldet Konkurs an, was lediglich dem Zweck der Steuerhinterziehung dient. Die in solchen Fällen gern verschlafene Staatsanwaltschaft lässt sich den Fall durch die (Scheuk)Lappen gehen. Das nunmehr leerstehende und dem Verfall preisgegebene Haus ging anschließend in die Hände der „We-E-Ge“ in München und dann in die der „Objektgesellschaft Schnoor-v. Carolsfeld Grundstücks m.b.H.“ in Buchholz bei Hamburg. Im Sommer 1990 verlegte sie ihren Sitz nach Gmund am Tegernsee. Recherchen der Schnorr-Initiative haben ergeben, dass sich unter der neuen Adresse des Firmensitzes nicht etwa die „Objektgesellschaft“, sondern ein Golfclub befindet. Und wer ist prominentes Mitglied des „German Open Golf Club“? Der Kaufmann Erich Kaufmann.
Diese Puzzlestücke kriminellen Handelns nützen uns nur nix. Eine Hand deckt und wäscht die andere, und die herrschenden Eliten haben viele davon.
Die Abriss- und die Neubaugenehmigung für das Schnorrgrundstück sind bereits erteilt. Irgendwann im Herbst geht es los. Über ein Jahr Objekt unserer Begierden, Zufluchtsort, Wärme- (v.a. Kälte-) und Ideenspender, wird das Haus dem Erdboden gleichgemacht. Auch die Gegend wird gleicher – aber nicht gerechter -, denn es sollen fünfundfünfzig Single-Wohneinheiten auf selbigem Grund entstehen. Die geplante postmoderne Fassade ist der Holzbalkon-Konstruktion des Schnorrhauses nachempfunden. Da lacht das Herz.
Irgendwann fragt man sich, was von so einem Projekt „Eine neue Kultur im Stadtteil schaffen – Räume und Bewusstsein erkämpfen“ – geblieben ist. Es bleiben sinnlose Rundläufe in den städtischen Referaten, Anträge auf Genehmigung eines Antrags, gelungene Aktionen, ein Ruck in so manchem von unserer Idee interessierten Kopf, vielleicht auch ein kleinwenig Druck auf die Stadt, die sich hilflos gegenüber der Macht des Privateigentums gebärdet. Es bleibt die Erfahrung einer Gruppe, die Streiten und Kämpfen gelernt hat und die sich sagen könnte: „Praktisch haben wir nichts geändert“. Oder: „Jetzt haben wir (zum Beispiel aus Fehlern) gelernt und können gestärkt weitermachen.“
Wir wollen „den Lauf der Dinge zurückholen zu uns selbst“ (Broschüre „schnorr ein jahr“). Die Gegend uns wieder-aneignen, in der wir leben, arbeiten und wohnen. Dort, wo die Massen- und Klassengesellschaft am unmittelbarsten unsere Lebensgrundlagen: Luft, freie unüberschaubare Flächen, Bedürfnisse nach selbstbestimmter Arbeit ohne Ausbeutung von uns selbst und anderen, ohne Tricks, nach selbstbestimmtem Wohnen ohne Warencharakter, nach gelebter Kultur mit und von dem V.o.l.k. – dort, wo sie diese bestehenden und meistens noch nicht bestehenden „anderen Wirklichkeiten“ zerstört, uns dagegen wehren und dagegen setzen. Unsere Ansprüche sind geblieben, das Schnorrhaus als Anfang, als Aufbruch aber konnten wir weder selbst retten noch selbstverwalten.
Wir sind reif für die Inseln – für die Inseln kultureller Gegenmacht.
Die Schnorr-Initiative nimmt im Herbst die Entscheidung über ihre Auflösung als solche bzw. über den erneuten Versuch, ein selbstbestimmtes Zentrum zu erkämpfen, in Angriff.
Im zweiten Fall werden wir unser entsprechendes Rinnsal zum allgemeinen Brodeln beitragen. Im ersteren wird ein Sturm über die Stadt brausen …
München-BOOMTOWN, du wirst uns nicht das letzte klau’n!
Hoch lebe die Kulturinitiative X-Ray!
Hoch lebe die Schnorr-Initiative!
Hoch leben die Steinläuse!
Hoch lebe das Jugendaktionsbündnis!
Hoch lebe die Stadtratte, Fred, und die arbeitslosen BerufsdemonstrantInnen!
Stadtratte 3 vom Oktober/November 1990, 15.