Materialien 1990

Abriß-Performance und anschließende Besetzung des Schnorrhauses

Am Freitag, den 5. Oktober 1990, veranstaltete die Kulturgruppe Englschalking ein Spektakel in einem leerstehenden Haus im alten Ortsteil von Englschalking. Erklärtes Ziel des Vereins ist es, auf den Leerstand und die Zerstörung des Hauses durch die Eigentümerfirma – eine dubiose Scheinfirma – hinzuweisen und ihre Forderung nach einem selbstbestimmten Stadtteil. und Kulturzentrum zu bekräftigen. Denn der Abriss des in der Gegend so genannten Schnorrhauses stand unmittelbar bevor.

Um 15.00. Uhr begann ein Redner in rosa schillerndem Kostüm die Geschichte des hinter ihm liegenden Schnorrhauses zu erzählen. Es sei das letzte verbliebene Denkmal, das an die Zeiten des Landes Schnorrasia erinnere, als es noch weite Wiesen, Felder und ein geschütztes Dorf gegeben hat. Deshalb dürfe es nicht geschehen, dass auch dieses Haus der „Fressgier der neuen Zeit“ zum Opfer falle. Das Haus wäre auch schon eine Zeitlang von „Engeln und Schalken“ bewohnt und mit Leben gefüllt worden.

Während die Zuschauergemeinde anwuchs, stürmte plötzlich eine Abrisstruppe in schwarzen Uniformen und Schaufel-Helmen herbei, überrannte den Redner und erzeugte durch das Trommeln auf Schrottwaren Abrissgeräusche. Endlich gelang es einem Clown, der Truppe die Masken zu entreißen, und so verwandelte sie sich in einen bunten Haufen von Fabelwesen, die sogleich das Haus bevölkerten.

Zusammen mit der Menge vor dem Haus inszenierten die „fabelhaften BesetzerInnen“ einen zweieinhalbstündigen Trommelwirbel mit Saxophon- und Gitarrenklängen. Die ab ca. 15.30 Uhr anrückende Polizei ließ nach einer Stunde Lagebesprechung das Haus mit ca. dreißig Beamten umstellen, die die Gruppe im Haus herausholen sollten. Die Polizeieinheit konnte aber den Volksfestcharakter der Aktion nicht beeinträchtigen. Sie bot der Gruppe schließlich an, wenn sie das Schnorrhaus freiwillig verlasse, gebe es weder eine erkennungsdienstliche Behandlung noch Personalienfeststellung. Die 15 ‘Fabelwesen’ verließen daraufhin das Gebäude unter dem Jubel der Anwesenden.

Ein Mitglied der Kulturgruppe erklärte am Ende des Spektakels: „Wir haben das Schnorrhaus damit wieder zu einem Thema gemacht. Die ‘Objektgesellschaft’, die sich hier mit dubiosen Methoden eine goldene Nase verdienen will, kann jeden Tag die Genehmigung für den Abriss bekommen.“

NACHTRAG

Zwei Wochen später, Montag, 22. Oktober in den frühen Morgenstunden wird das Schnorrhaus plötzlich abgerissen. Innerhalb einer knappen Stunde hat ein Bagger das knapp hundert Jahre alte Haus in einen Trümmerhaufen verwandelt. Die Schnorr-Initiative hat vor, trotz dieses Rückschlags weiterhin für ein Stadtteil-Zentrum und für die Selbstorganisierung Englschalkings zu kämpfen.

fufu


Stadtratte 4 vom Dezember/Januar 1990/91, 7.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Jugend

Referenzen