Materialien 1990

Mit ernsten Worten

mahne ich die Süddeutsche Zeitung zur Konsequenz des Marktes

Sehr geehrte Damen und Herren,

der SZ vom 11. Juli 1990 ist zu entnehmen, dass die 90 öffentlichen Theater in der Bundesrepublik nur 17,9 Prozent ihrer Kosten eingespielt hätten, die Subventionen einer Spielzeit 2,04 Milliarden Mark betrügen und der Zuschuss pro Besucher 111,12 harte D-Mark. Nicht zuletzt durch Ihre Zeitung und ihren engagierten Wirtschaftsteil marktwirtschaftlich eingestimmt, vermisse ich einen bitteren oder höhnischen Kommentar über diese Subvention nicht lebensfähiger Theaterbetriebe, einen sozialmarktwirtschaftlichen Kommentar, der sich an der bekanntlich absurden Subventionierung von Wohnen, Nahrungsmitteln oder gar Kinderkleidung in der damaligen DDR mit ihrer maroden, verrotteten und grauen Misswirtschaft den Maßstab nähme. Sagen Sie nicht, es mache einen Unterschied, ob man subventioniertes Brot vor die Schweine oder Perlen der Theaterkunst vor kulturbeflissene Bürger werfe: die Struktursystematik unserer Sozialen Marktwirtschaft lässt eine solche Überbetonung des sozialen Moments nicht zu, das dadurch unsozial wird, weil die Grundprinzipien des Marktes und seiner Rationalität verletzt werden.

Mit freundlichem Gruß
Heinz Jacobi
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Sie sitzen so fest im Sattel, dass sie gar nicht spüren, wenn man sie auf den Arm nimmt und Konsequenz fordert. Die Süddeutsche Zeitung belehrt mich.

13. Juli 1990

Sehr geehrter Herr Jacobi,

für Ihr Schreiben vom 11. Juli danken wir Ihnen verbindlichst, und da Sie sich ja dankenswerterweise über die Lage der kulturellen Subventionen äußern, darf ich Ihnen ein paar Zeilen dazu schreiben.

Man kann natürlich, wie Sie vorschlagen, die „Grundprinzipien des Marktes und seiner Rationalität“ unbeirrbar verfolgen und einhalten, aber dann bricht die Kultur, oder was wir sonst als Zivilisation nennen, stracks zusammen: Wenn öffentliche Gelder weder für Forschung und Universität, Sport und Krankenpflege, städtische Kultureinrichtungen, wie Theater und Orchester, ausbleiben, weil man „Ihrem“ Prinzip huldigt, dann wird es etwas dunkel in unserem Lande.

Vielleicht argumentieren Sie, nicht jeder Steuerzahler geht ins Theater oder hört Konzerte, will sie also nicht finanzieren. Meine alte Mutter dagegen war niemals im Olympiastadion und bekundigt auch kein Interesse daran; die Sportbesucher sind, wie die Statistik zeigt, mittlerweile ins Hintertreffen geraten, so dass man Neubauten von Sportstätten und Museen gleichermaßen fördern oder vernachlässigen kann.

München bietet an subventionierten und nicht subventionierten Kulturangeboten allabendlich ca. 20.000 Plätze, was doch schon eine qualifizierte Minderheit darstellt. Dass eine Stadt bzw. der Freistaat sich Theater, Museen und Orchester „leistet“, gehört nach allgemeiner Anschauung zu den selbstverständlichen zivilisatorischen Pflichten wie, ich erwähnte es schon, Sport, Forschung, Erziehung jeder Art. Wenn Sie Ihre Prinzipien aufrecht erhalten, dürfte es nur Privatschulen, private Kultureinrichtungen und Privatkrankenhäuser geben (die im übrigen gigantische Beträge an Subventionen verschlucken, weil die Patienten ja allenfalls ihre eigene Pflege, aber nicht die Forschung, die z.B. in Universitätskliniken betrieben wird, mitfinanzieren können.)

Natürlich schreiben wir auch gelegentlich bittere Kommentare, wenn Gelder verschleudert werden, und mir will auch nicht in den Kopf, warum ein einziges Opernhaus einen Etat von 100 Mill. im Jahr haben muß. Das sind großenteils staatliche Angestellte und Beamte, viele hundert Leute, die sicherlich empört wären, wollte man sie nicht so behandeln wie etwa die Angestellten Rechts der Isar.

Fazit: Ein bisschen mehr Bescheidenheit beim Gebrauch öffentlicher Mittel, aber ein bisschen mehr Selbstverständnis für die Aufrechterhaltung öffentlicher, kultureller Einrichtungen, auf die die Menschen genau solchen Anspruch haben wie auf die städtische Müllabfuhr.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Albrecht Roeseler
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Der artistische Tonfall verrät: der Mann führt das Feuilleton. Aber auf die Müllabfuhr und den Niedergang von Theatern unter dem Ausstattungskünstler Everding will ich gar nicht eingehen, ich will den Zusammenbruch der Kultur, oder was sie sonst als Zivilisation nennen, nicht stracks, sondern nur rasch noch den Geist des Landes dokumentieren, wo es finster ist und die Kultur der marktwirtschaftlichen DDR den Löffel abgeben muss — weil man gegen Subvention ist.

21. Juli 1990

Sehr geehrter Herr Dr. Roeseler,

ich wollte nur hinweisen auf die Spannweite einer Geistesarmut, die unter der Fahne des Marktes Umverteilungen in der DDR vor dem Anschluss als schädliche Subventionen anprangerte, während hierzulande ein Subventionswesen blüht – vom Agrarmarkt über die Ruhrkohle zu Werften und Airbus und zu Sängern mit 30.000 Mark am Abend -, das alles in den Schatten stellt, was in der DDR an Kinderkleidungsverbilligung je geleistet wurde.

Ich wollte den Finger auf eine Wunde der Inkonsequenz, der Heuchelei, legen, aber da war keine Wunde gespürt. Mit Ihren Darlegungen über die unbestrittene Notwendigkeit der Subvention von kulturellen, wissenschaftlichen und sonstigen Lebensmitteln zeigen Sie, dass die Stimmung im Lande und den Wirtschaftsredaktionen an Ihnen vorübergegangen ist. Lassen Sie das die glühenden Verfechter des Marktes in Ihrer Zeitung nicht wissen! Ich wiederum gehe sogar so weit, gerade die Diktatur des Marktes umwälzen zu wollen zugunsten der Lebensnotwendigkeiten. Andererseits ist aufschlussreich, wie selbst dick aufgetragene Ironie nicht erkannt wird und die soziale und kulturelle Tünche des Kapitalismus derart verteidigt werden muss – viel Kreide -, um die Wolfsfratze zu verdecken. Vorschläge der totalen Unterwerfung aller menschlichen Betätigung unter das Geld, wie sie Milton Friedman gibt und seine Schüler im Chile Pinochets umsetzten, werden positiv diskutiert. Ich hatte gehofft, die Bezeichnung der Verbilligung von Wohnen, Nahrungsmitteln oder gar Kinderkleidung als absurd müsste jedem nicht ganz Herzlosen die Ironie meiner Anregung bloßlegen. Dem ist heutzutage während des Siegeszuges der „Marktwirtschaft“ und seiner verheerenden Folgen nicht so.

Hochachtungsvoll
Heinz Jacobi


Heinz Jacobi, Deutschdeutsch. Materialien gegen ein Volk. Das Anschluss-Lesebuch. Sonderband IV des Boten. Politisch-literarische Zeitschrift, München 1990, 366 ff.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Lebensart

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