Materialien 1990

Zwei Leben - ein Tod

Das Volk behauptete vom Volksschauspieler, dass man ihn den Vorzeigemünchner nennen müsse, das Vorzeigevorbild, das nicht dem Münchner, sondern dem der Münchner ähnlich sei. Er hatte typische Charakteristika sich angeeignet und mit Teilen seiner Individualität so verzahnt, dass diese zu seiner zweiten Natur wurden. Diese zweite Natur, der heterosexuelle, patriarchalische bierbäuchige Familienvater, wandelte sich von der Rolle zum Selbst, obwohl sie der ersten, schwulen Natur diametral entgegengesetzt war. Die zweite Natur verleugnete die erste und die erste agierte aus ängstlichem Verstecken heraus. Der Schauspieler spaltete sich auf in zwei Existenzen, die er vor sich und der Welt geheim halten zu müssen glaubte.

Die Gier der Voyeure motivierte die zynischen Boulevard-Blätter, alles auszubreiten über das Leben und den grausamen Tod des beliebten Volksschauspielers. Die Rinnsteinblätter erwähnten natürlich auch die „peinliche“ Veranlagung des beliebten Volksschauspielers, um dem entrüsteten Volk die liberale Verzeihung nahezu legen, zu der sonst nur noch die Heilige Mutter Kirche berechtigt ist. Aber nicht der jämmerliche Tod, sondern die Jahrzehnte uneingestandener Heuchelei machten die eigentliche Tragik dieses „erfüllten“ Lebens aus.

Wer wusste denn nicht Bescheid!? Die schwule Szene der Stadt, die elitäre Creme der Gesellschaft und die führenden Politiker, ihnen allen war bekannt, dass er ein masochistisch veranlagter Homosexueller war. Pervers ist aber nicht diese Veranlagung, sondern die gespenstische, alle Jahre wiederkehrende Veranstaltung im Bierkeller, von Bajuwarologen „Politikerderblecken“ genannt. Da sitzen sie alle beieinander: Staatssekretäre, Minister, Intendanten, Aufsichtsratsvorsitzende der Banken und der Landesvater, wohlwissend, dass der, der sie derbleckt, ein masochistischer Homosexueller ist. Was für ein Spaß! Vor allem, weil der einzige, der nicht weiß, dass es alle wissen, dieser Hofnarr auf dem Podium ist.

Die Mechanismen aus Anpassungsdruck und Schrecken, auf die wir mit leuchtenden Augen zeigen, sobald sie nur stasiverdächtig sind, die wir aber ableugnen in der freiesten aller freien Marktwirtschaften, wirken gerade hier verschleiert umso zielgenauer. Die Grausamkeit in diesem Land des schönen Scheins, die erfordert, sein Wesen versteckt halten zu müssen, um nicht ausgespieen zu werden, operiert mit der herrschenden Doppelmoral, mit christlichen Predigten und mit der Keule des § 175.

Solange die Heuchelei als wichtigste Befähigung zum gesellschaftlichen Aufstieg in diesem Lande vorausgesetzt wird, solange bleiben die vielen auf der Strecke, die zu ungeschickt sind, die Lüge zum Prinzip zu erheben – und die, die sich allzu perfekt mit der Lüge identifizieren. Letztere haben zugelassen, dass die Lügenrolle das Ich zum Teufel gejagt und dessen Platz eingenommen hat.

Wer im Patriarchat Karriere macht wie der beliebte Volksschauspieler, der bleibt eben auch auf der Strecke.

(güg)


Münchner Lokalberichte 15 vom 25. Juli 1990, 11.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Schwule/Lesben

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