Materialien 1990
Die späten Sklaven
Ehemalige Zwangsarbeiterinnen verklagen Siemens und unterliegen
Ohne diese Hilfsarmee wäre die Kriegsmaschine der Nazis viel früher zum Stillstand gekommen. Über zwölf Millionen Menschen aus ganz Europa waren 1944 für Rüstungsbetriebe des „Großdeutschen Reiches“ zwangsverpflichtet. Unter ihnen je eine halbe Million Juden und KZ-Häftlinge. Das Gros waren sogenannte Fremdarbeiter aus dem Osten. Aber auch deutsche Staatsbürger, zur Hälfte diskriminierte Frauen, mussten unter erbärmlichen Umständen schuften „für den Endsieg“. Es war nichts anderes als Sklaverei – ein Tatbestand, den schon ein Reichsgesetz von 1895 unter Strafe gestellt hatte. Bayerische Großbetriebe, von BMW bis Schaeffler, hatten sich als Sklavenhalter im staatlichen Auftrag besonders „verdient“ gemacht. Noch lange nach 1945 konnten sich die Rechtsnachfolger jeder Verantwortung entziehen. Bis einige der vergessenen Kriegsopfer den Gang zu den Gerichten und zur Öffentlichkeit wagten – und prompt abgeschmettert wurden.
Neun Frauen, 66 bis 91 Jahre alt, traten gegen einen Weltkonzern an und forderten Wiedergutmachung. Beim Amtsgericht München reichte in ihrem Namen die „Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime“ im Mai 1990 eine Musterklage gegen den Siemens-Konzern ein. „Wir machen Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung geltend,“ stellte der von der „Aktion Sühnezeichen“ beauftragte Rechtsanwalt Hermann Müller fest. Es ging um die Auszahlung des damals vorenthaltenen Lohnes und um Schmerzensgeld.
Der Staat hatte die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen bisher in keiner Weise für das erlittene Unrecht entschädigt. Die Rentnerin Friedel Thron aus Mannheim, eine der Klägerinnen, hatte es versucht: Sie scheiterte an den Richtlinien der Bundesregierung für Leistungen aus dem Härtefonds für NS-Verfolgte, die nur bei Einkünften unter 1.570 DM griffen.
Weihnachten 1942 war die 22-Jährige ins Frauen-KZ Ravensbrück eingeliefert worden, weil sie russischen Kriegsgefangenen Brot und Äpfel zugeworfen hatte. 2.100 weibliche Häftlinge arbeiteten in den 20 Produktionsbaracken neben dem Lager. Frau Thron musste elektrische Teile für Bomber und U-Boote montieren. Elf Stunden täglich hatte sie Kupferdraht aufzuspulen. Dafür bekam sie einen Gutschein für 0,50 Reichsmark. Das reichte gerade für ein Stück Seife im Kantinenschuppen. Ihr Betrieb gehörte dem Siemens-Konzern, wenngleich die Aufseherinnen von der SS kamen.
„Die Aufseher von Siemens waren schlimmer als die SS. Nur wenn sie gut aufgelegt waren, bekamen wir einen ,Prämienschein’ im Wert von 25 Pfennigen. Abends gab’s meist nur Wassersuppe und manchmal eine Schnitte Brot.“ So erinnerte sich die 66-jährige Renate Lutz. Sie war ins KZ gekommen, weil sie sich als 15-jährige geweigert hatte, gegen ihren sozialdemokratischen Vater vor der Gestapo auszusagen.
„Es war nie Wunsch und Wille von Siemens, Zwangsarbeiter zu beschäftigen“, erwiderte ein Sprecher der Münchner Konzernspitze auf die Klageschrift. Die Arbeitskräfte seien „von der damaligen Wehrführung zugewiesen“ worden. Trotzdem hatte Siemens schon 1962 für jüdische Zwangsarbeiter insgesamt sieben Millionen Mark als Entschädigung gezahlt. Alle anderen Forderungen waren von den damaligen Rüstungsfirmen stets zurückgewiesen worden, von Siemens ebenso wie von Daimler Benz, Krupp und den Nachfolgern von IG Farben. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigte, dass die Konzerne solche Arbeitskräfte nicht freiwillig, sondern im Auftrag des Reiches beschäftigt hatten.
Schon viele Jahre zuvor waren ähnliche Forderungen von Siemens abgewiesen worden. Die Firma wollte nur Erfüllungsgehilfe der Reichswirtschaftsführung gewesen sein und auf die Zuweisung von Arbeitskräften keinen Einfluss gehabt haben. Außerdem pochte sie auf Verjährung, die nach geltendem Recht schon nach drei Jahren einsetzte, sofern nicht entsprechende „beweiskräftige Erkenntnisse“ vorlagen. Solche Erkenntnisse aber waren, nicht zuletzt wegen verschlossener Firmenarchive, zunächst sehr lückenhaft.
Diese Rechtsprechung habe keinen Bestand mehr, machte Anwalt Müller vor dem Münchner Gericht geltend, weil inzwischen Dokumente vorlagen, die zumindest den „Gleichklang oder gar Gleichschritt“ der damaligen Rüstungsindustrie mit dem Regime aufzeigten. „Selbst die Elektrokarren, mit denen im Winter die zur Arbeit marschierten Frauen angeleuchtet wurden, damit keine fliehen konnte, stammten von Siemens.“ Außerdem habe Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, vor amerikanischen Militärrichtern betont, nicht die KZs hätten der Industrie Arbeitskräfte angeboten, vielmehr hätten sich die Betriebe solche Häftlinge ausgesucht.
Ums Geld allein ging es weder den klagenden Frauen noch dem beklagten Konzern. Der könnte die Entschädigung „aus der Portokasse“ zahlen, meinte Müller und verwies auf die 21 Milliarden in der Bilanz ausgewiesenen flüssigen Mittel. Es ging vor allem darum, nach fast einem halben Jahrhundert noch einmal ein Stück Vergangenheit moralisch zu bewältigen. Den letzten deutschen Opfern, den neun Frauen, blieb nicht mehr viel Zeit, dies zu erleben.
Das Gericht nahm darauf keine Rücksicht: Die Klage wurde in zweiter Instanz wegen Verjährung abgewiesen, den Klägerinnen wurden alle Kosten aufgebürdet. „Gemein“, rief die Jüngste der Klägerinnen, Renate Lutz, laut in den Zuhörersaal; der Vorsitzende rügte sie wegen Ruhestörung. Eine Verjährung, so urteilten die bayerischen Richter, müsse auch deshalb gelten, weil eine „unzulässige Rechtsausübung“ durch die Firma Siemens zur fraglichen Zeit nicht erkennbar geworden sei.
Die Rechtsvertreter der klagenden Frauen kündigten Berufung an. Inzwischen hatten sich, weil der Rechtsstreit weithin bekannt wurde, weitere Frauen gemeldet, viele aus Russland, die nun ihr Recht einfordern wollten. Auch waren Politiker der SPD, vor allem Hans-Jochen Vogel, und der Grünen im Bundestag um eine Lösung bemüht. Frau Lutz, die von 287 DM Rente lebte, hatte aber nur noch wenig Hoffnung: „Bis wir Recht bekommen, liegen wir vielleicht schon unter der Erde.“
Was weiter geschah
Das Münchner Urteil, das viele als skandalös empfanden, löste eine große politische Diskussion aus. 1997 und 1998 wurden VW und andere Firmen erstmals von Gerichten zu Lohnnachzahlungen an NS-Zwangsarbeiter gezwungen. Im Februar 1999 einigten sich zwölf Unternehmen in einem Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die Einrichtung einer Stiftung, die von der deutschen Wirtschaft mit fünf Milliarden Mark grundfinanziert werden sollte. Sie wurde im August 2000 durch ein Bundesgesetz unter dem Namen „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Berlin begründet. Bis zum Abschluss im Juni 2007 wurden an 1,66 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter in fast hundert Ländern insgesamt 4,4 Milliarden Euro ausbezahlt und einige humanitäre Projekte gefördert. Mit ihrem Vermögen von 358 Millionen Euro unterstützt die Stiftung weiterhin vierzehn internationale Forschungsprojekte. Für 2010 ist eine internationale Abschlusskonferenz mit den Partnern geplant. Einige der Unternehmen, auch Siemens, haben ihre NS-Vergangenheit aufarbeiten lassen.
Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 245 ff.