Materialien 1991

Junkies, Ex-User, Substituierte (JES): Demonstration für menschenwürdiges Leben

Am 31. August rief JES, ein bundesweiter Zusammenschluss vieler Drogenselbsthilfegruppen innerhalb der Deutschen Aidshilfe zu einer Demonstration in München auf. Unmittelbarer Anlass war die Diskussion und Festschreibung der NUB (Neue Untersuchungs- und Behandlungs)-Richtlinien für Drogenabhängige und die im Herbst anstehende Novellierung des Betäubungs-
mittelgesetzes (BTMG). Zentrale Forderung der rund 800 Teilnehmer war die Forderung nach unbeschränkter Ersatzmittelbehandlung mit Polamidon oder Methadon – Beginn eines men-
schenwürdigen Lebens.

„Als solidarisches Bündnis von Junkies, Ex-Usern und Substituierten wollen wir unser Recht auf Menschenwürde einklagen. Wir wollen es nicht erst durch abstinentes und angepasstes Verhalten erwerben,“ so in einer Selbstdarstellung von JES.

Damit steht JES im Gegensatz zu den etablierten Drogenberatungsstellen mit ihren herkömmli-
chen Behandlungsmethoden, deren Ziel die völlige Abstinenz ist als Voraussetzung zur gesell-
schaftlichen Wiedereingliederung. Da auch die Behandlungsrichtlinien und Gesetze von diesem Ansatz ausgehen, gibt es in der Drogenszene kaum Solidarität. Die Betroffenen werden krimina-
lisiert, leben zwischen Sucht, Knast, Therapie, Psychiatrie, meist in der Illegalität und absoluter Verelendung. JES kämpft für Hilfsangebote, deren Grundlage die akzeptierende Drogenarbeit ist: die Sucht als Folge von Leistungsdruck und Repression, denen der Drogengebraucher nicht ge-
wachsen ist, muss – ausgehend von einer Rückfallquote an die neunzig Prozent – akzeptiert wer-
den, ohne den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben zu verwehren.

Die Zahl der Drogenabhängigen liegt im Dunkeln. In München – so Kenner der Szene – muss von 3.000 „intravenösen“, d.h. sich spritzenden Drogenabhängigen ausgegangen werden. Diese Men-
schen leiden in besonderem Maße unter den gegebenen Verhältnissen:

▓ Beschaffungskriminalität. Die tägliche Dosis muss auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen erstanden werden, die Geldmittel dafür werden durch kriminelle Delikte aufgebracht.

▓ Extreme Infektionsgefahr vor allem mit HIV. Ein Drittel der Fixer haben keinen Zugang zu steri-
lem Spritzbesteck. In Gefängnissen setzen 55 Prozent der Drogengebraucher ihre Sucht fort und infizieren sich auch meist mit HIV.

▓ Hohe Verelendung durch öffentliche Repression. Leistungsunfähig, ohne Arbeit, damit auch ohne Wohnung ist er bei Offenbarung seiner Sucht staatlichen Zwangsmaßnahmen vom Knast bis zur Zwangstherapie im Winkel der Psychiatrie ausgesetzt. Es wird ihm der letzte Rest an eigenem Willen zur Lebensgestaltung genommen.

Substituten, Süchtige die mit Ersatzdrogen behandelt werden, können die Illegalität verlassen, regelmäßig arbeiten und damit über kurz oder lang auch eine Wohnung finanzieren. Auch die Infektionsgefahr reduziert sich auf Null, da Ersatzdrogen oral verabreicht werden. Nach den derzeitigen Gesetzen und Richtlinien werden aber nur schwer Erkrankten – das sind 10 Prozent der Süchtigen — Ersatzmittelbehandlung zugestanden, dann wenn schon irreversible Schäden eingetreten sind. Und auch dann noch müssen sie täglich in der Arztpraxis erscheinen. So dass pünktliche Arbeit, eventuelle Reisen, Urlaub sehr erschwert werden.

Es ist der Verdacht nicht von der Hand zuweisen, dass Süchtige – zumindest Drogensüchtige – kein Recht auf selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben haben. Dafür einzutreten war das Anliegen der Demonstration. — (ecg)

JES c/o Münchner AIDS-Hilfe e.V., Corneliusstraße 2, 8000 München 5, Tel.: 089/268071

Aus dem Aufruf von JES zur Demonstration

Wir sind eine süchtige Gesellschaft, z.B. Spielsucht, Videosucht, Fress-Sucht, Tee, Kaffee, Nikotin, Alkohol. Dabei galten Nikotin, Kaffee und Tee im 18. Jahrhundert noch als illegale Drogen. Ihr Genuss war unter Todesstrafe verboten.

Heute sind diese Drogen von der Gesetzgebung und der Gesellschaft akzeptierte Dinge. Trotzdem sterben heute noch mehr Menschen an den Folgen von Alkohol- und Nikotingenuss als an allen illegalen Drogen zusammen. Aber all diese Drogen versteuert der Staat und verdient daran. Und der Staat und die Gesellschaft maßen sich an, auf die Gebraucher illegal gehaltener Drogen herab-
zuschauen, sie zu diskriminieren und in Haft zu stecken. Die Gebraucher von z.B. Heroin verelen-
den und sterben nicht an der Droge selbst, sondern an der Gesetzgebung und damit an den Le-
bensumständen. Deshalb brauchen wir eine Entdiskriminierung. Nicht umsonst sehen sogar einige Vertreter der Polizei und Polizeigewerkschaft eine Entkriminalisierung als einzige Möglichkeit an, der Drogenmafia den Boden zu entziehen. Deshalb brauchen wir, ungerechtfertigt Verfolgte und teilweise verelendete DrogengebraucherInnen, Soforthilfsmaßnahmen, wie wir sie heute exempla-
risch für viele andere deutsche Städte hier in München einfordern:

1. Wir brauchen ausreichend Substitution mit geänderten oder ohne NUB-Richtlinien.

2. Wir brauchen Schutzräume zum Fixen.

3. Wir brauchen Drogenambulanzen.

4. Wir brauchen Notschlafplätze für Drogengebraucher.

5. Wir brauchen warme und kalte Entgiftungsplätze.

6. Wir brauchen Kontaktläden/Treffpunkte.

7. Wir brauchen Entkriminalisierung/Legalisierung.

Beendet die Strafverfolgung von Junkies!


Münchner Lokalberichte 18 vom 4. September 1991, 8.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Drogen

Referenzen