Materialien 1991

Gefeuert, weil er Kritik an der Tarifpolitik übte

Der geschäftsführende Hauptvorstand der ÖTV hat den Kollegen Michael Wendl, Gewerkschaftssekretär der ÖTV Landesbezirk Bayern, fristlos entlassen. Der Grund war ein Zeitungsartikel Wendls, in dem die Verhandlungstaktik der ÖTV in der letzten Tarifrunde nicht gut weg kam. Der Artikel schließt mit der Feststellung:

„Wird dieser Tarifabschluss insgesamt bilanziert, so zeigt sich, dass die materiellen Verbesserungen durch spürbare Verschlechterungen bei den tariflichen Arbeitszeitnormen erkauft wurden. Ein Ergebnis, das tarifpolitisch reaktionär ist und sich gegen die gewerkschaftspolitische Beschlusslage richtet. Mit einer anderen Verhandlungstaktik, d.h. dem Vermeiden von offenkundigen Verhandlungsfehlern bei den Eingruppierungsverhandlungen, hätte dieser Tausch vermieden werden können. Angesichts der hohen Erwartungshaltung und der vorhandenen Streikbereitschaft der Mitglieder wäre ein materielles Ergebnis von über 6 Prozent auch ohne die Preisgabe arbeitszeitpolitischer Positionen durchzusetzen gewesen. Der gewerkschaftsinterne Ärger über diesen Abschluss wird daher anhalten.“

Die Münchner Kreisdelegiertenkonferenz der ÖTV am 6. Juni 1991 hat in einem Initiativantrag festgestellt, dass die jüngsten Tarifabschlüsse bei Mitgliedern in bestimmten Bereichen eine positive Resonanz gefunden haben. Ebenso hat es auch deutliche Kritik gegeben, besonders aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes. Es sei legitim und verständlich, dass Tarifabschlüsse einer kritischen Diskussion ausgesetzt sind. In diese Diskussion mit der Entlassung von Hauptamtlichen einzugreifen sei falsch. Der HV wird aufgefordert, die fristlose Entlassung des Kollegen Michael Wendl zurückzunehmen.

M. Wendl ist uns Münchner Freidenkern kein Unbekannter. Selbst Mitglied unserer Organisation, hat er Veranstaltungen des Freidenkerverbandes mitgestaltet, wie die Diskussion „Kulis für die Kirche“, und im letzten Info haben wir Ausschnitte eines Artikels von ihm gebracht. Wir Freidenker, in unserer Mehrzahl gewerkschaftlich organisiert, schließen uns den Protesten gegen die Entlassung Michael Wendls an. Der Kollege Wendl darf nicht mundtot gemacht werden, er muss seine Arbeit als Gewerkschaftssekretär auch weiterhin ausüben können.


Freidenkerinfo. DFV Ortsgruppe München vom September – Dezember 1991, 11.