Materialien 1991

Einigung im „Fall Wendl“

Am 3. Juni 1991 hatte der geschäftsführende Hauptvorstand (gHV) den ÖTV-Sekretär und -Betriebsrat Michael Wendl fristlos gekündigt. Sieben Wochen später, am 23. Juli, war das Arbeitsgericht München Ort der Handlung: Gütetermin. Man einigte sich: Wendl kassiert die zugespitzte Wertung, dass der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst vom Frühjahr dieses Jahres Ergebnis eines »abgekarteten Spiels«, eines »von vornherein vereinbarten Zusammenspiels der Tarifvertragsparteien« sei, erhält eine Abmahnung und bekommt vorübergehend – bis zum 30. Juni 1992 – einen neuen Aufgabenbereich in der ÖTV-Bezirksverwaltung Bayern, unter unveränderten Vertragsbedingungen.

Bedingung für die Zugeständnisse Wendls war, dass der gHV die fristlose Kündigung zurücknimmt und auf Forderungen verzichtet, die zum Scheitern der Schlichtungsverhandlungen geführt hatten: Wendl sollte sich u.a. von der Kritik, dass der Tarifabschluss gegen die gewerkschaftspolitische Beschlusslage verstoße und dass die Tarifarbeit des gHV Züge einer »abgehobenen und mit Herrschaftswissen abgesicherten Expertenveranstaltung« aufweise, distanzieren. Den Versuch, Wendl unter Berufung auf den Tendenzschutz aus seinem Arbeitsverhältnis bei der ÖTV zu klagen, hatte der gHV bereits im Vorfeld eingestellt – man hätte der ÖTV und den anderen DGB-Gewerkschaften nur schaden können.

Mit dieser Einigung konnte ein langwieriger Rechtsstreit in letzter Minute umgangen werden. Der Konflikt bleibt was er von Beginn an war: eine politische Auseinandersetzung.

Die massiven Proteste gegen die fristlose Kündigung eines Streitkultur praktizierenden Gewerkschaftssekretärs innerhalb wie außerhalb der ÖTV haben die Einigung möglich gemacht. Engagement zahlt sich aus! Die Proteste haben zugleich gezeigt, wie dringend notwendig die weitere Auseinandersetzung ist.

Es geht um die Handlungsfähigkeit gerade der Gewerkschaft, die im Zentrum der neokonservativen Angriffe auf sozialstaatlich gestaltete Lebensverhältnisse steht. Das offenkundige Scheitern marktradikaler Politik in den neuen und alten Bundesländern, die Bestrebungen der Bundesregierung, den Gewerkschaften und deren Lohnpolitik den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben und die Versuche, Massenarbeitslosigkeit erneut für reaktionäre Deregulierungs-, Flexibilisierungs- und Privatisierungspolitik zu nutzen, unterstreichen, wie wichtig das kritische, aktive Engagement der KollegInnen insbesondere in der Tarifarbeit der ÖTV ist.

Es geht ferner um die Zukunftsfähigkeit von Gewerkschaften in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Strukturwandels, um die Verbreiterung ihrer sozialen Basis bei Frauen, Jugendlichen, höher Qualifizierten, und um die Erneuerung von Beschlusslagen und Politik gemäß entwickelter Bedürfnisse an Arbeit und Leben. Damit um qualitative Tarifpolitik im Sinne einer sozial-ökologischen Strukturpolitik, aktiver Gestaltung qualifizierter Arbeitsbedingungen und erweiterter Kontrolle und Mitsprache.

Eine diesen Anforderungen Rechnung stellende Gewerkschaftspolitik erfordert schließlich eine transparente, offene und beteiligungsorientierte Organisationspraxis, die es nicht mit Verweisen auf demokratische Delegationsstrukturen von Gremien und Gewerkschaftstagen bewenden lässt, sondern das kritische Engagement der Mitglieder, haupt- und ehrenamtlichen KollegInnen geradezu herausfordert.

Die Zukunft des öffentlichen Dienstes und die demokratische Erneuerung der Organisation stehen auf der Tagesordnung des nächsten ÖTV-Gewerkschaftstages. Die im »Fall Wendl« deutlich gewordene politische Auseinandersetzung wird weitergeführt werden.

R.D.


Sozialismus 9 vom September 1991, 56.