Materialien 1991
„Die Pyramide ins Rollen bringen“
- ein Gespräch mit einem Gründungsmitglied
Ulf Peters … Architekt und feinfühliger Wahnwitziger, ist eines der übriggebliebenen Gründungsmitglieder des Seidl-Villa-Vereins. Etwa zwei Stunden haben wir Zeit für ein Gespräch in seinem kleinen Wohnhaus direkt im Herzen des Geschehens, am Nikolaiplatz. Er sucht erst mal einen Aschenbecher sowie Papier und Bleistift. Dann fängt er an, eine Pyramide zu zeichnen:
„So sieht das Alte Denken aus. Unten ist die breite Masse, die entweder nichts hat, oder wie bei uns mit Lotto, Pop und BILD-Zeitung zufrieden gehalten wird. Kulturell gesehen hast du auf mittlerer Höhe Kleinkunst, Bürgerhäuser usw. Das Oberste ist das Beste. Das Nationaltheater; die Philharmonie, die Spielwiesen für die, die sich die Intellektualität leisten können. Die Einsamkeit an der Spitze und der Bodensatz der verlassenen Massen gründet auf dem immer noch andauernden Patriarchat.“
Gespannt darauf, welches Bild für das Neue Denken stehen soll, versucht Ulf Peters eine Kugel zu skizzieren. Hier seien alle Punkte in gleicher Weise miteinander vernetzt, es gibt kein Oben und kein Unten, der Kern ist nicht besser als der Rand. Schon sind wir auch beim Kern der Unterhaltung. Weingläser stoßen aneinander, um den Redefluss feucht zu halten:
„Das Ziel des ersten, selbstverwalteten Stadteilzentrums in München besteht darin, die im Rathaus zentralisierte Macht letzten Endes überflüssig zu machen.“
Keine zentrale Abteilung, die vorgibt, die Interessen der Stadtteile zu verwalten, sei menschlicher Fortschritt, sondern das Wahrnehmen und Durchsetzen von Bedürfnissen auf unterster Ebene.
„Es geht also darum, die Macht wieder zurück in die Viertel, in die ehemaligen Dörfer zurückzuholen?“ frage ich nach.
Kurzes Zögern – „Nein, es kommt gar nicht darauf an, dass anstelle der Bürokraten wir die Macht ausüben. Macht ist eine Frage der Würde. Wir müssen sehen, dass sie verschwindet und Platz MACHT für eine wechselseitige Verantwortung der Menschen untereinander; für die Kontrolle über uns selbst und gleichzeitig für die Fähigkeit, dieser Kontrolle auch freien Lauf lassen zu können.“
Ehe die Zeit um ist, will ich endlich etwas über das Durchhaltevermögen eines laut + leisen Stadtteilkämpfers erfahren.
„Wie schaffst du es, einen so langen Atem zu haben, immerhin sind es bald zwanzig Jahre kontinuierlicher Seidl-Arbeit?“„… Es ist wie mit den tibetanischen Kurzstreckenläufern. In den Startlöchern hockend, sind sie, ehe sie überhaupt losgelaufen sind, geistig schon im Ziel. Ähnlich ist es mit einem Projekt wie der Seidl-Villa. Als erstes baut man sich ein geistiges Haus. Wir können immer Jetzt-Sofort mit dem Versuch beginnen, so zu leben, so an der Kultur und der Veränderung von uns und der Gesellschaft zu arbeiten, wie es uns dann später zum Beispiel in einem Zentrum vorschwebt. Räume, die wir jetzt schon mit einem neu aufbrechenden Leben füllen können, sind – bei aller Knappheit – immer da, und wenn es eine Straße ist.Es nützt nicht viel zu jammern und alles darauf zu schieben, dass die Stadt immer noch nicht genug Raum hergegeben hat; was sollten wir auch darin anfangen, wenn wir uns jetzt darin nicht üben? Natürlich gehört das Ringen mit der Verwaltung und Ankämpfen gegen die Verhältnisse dazu, aber wenn sich nicht jetzt unsere Ziele auch schon umsetzen lassen, wird die Arbeit dafür zum Selbstzweck. Es soll ja auch Spaß machen …“
fufu
Stadtratte 5 vom März/April 1991, 37.