Materialien 1991
Seidlvilla. Ein Stück Zukunft
sx: Herr Schwarz, Ihr Leben hat Ihnen schon einige nicht einfache aber faszinierende Aufgaben gestellt: Gründung eines Verlagskollektivs, Autor, Grafiker, Stadtrat, Ausstellungsorganisator. Was ist das Reizvolle an der Arbeit als Leiter der Seidlvilla?
Andreas Schwarz: Es ist das Experiment „selbstbestimmtes Bürgerhaus“, das mich fasziniert und auch für meine persönliche Geschichte einen neuen Schritt darstellt. Die Seidlvilla lebt ja von recht verschiedenen Menschen und Gruppen. Jede Gruppe hat ihr spezielles Interesse, jeder bringt seine Individualität mit in dieses Haus. Das Spannende ist für mich zu beobachten, wie daraus (vielleicht) eine Gemeinsamkeit wird – und natürlich auch an diesem Prozess mitzuwirken.
sx: Und Ihr Ziel dabei?
Schwarz: Das läßt sich für mich im Moment nur als gemeinsamer Lernprozess beschreiben, den ich unterstütze, aber natürlich auch selbst mitmache. Kurzum: Autonomie und Eigensinn.
sx: Also ist der Weg das Ziel?
Schwarz: Es ist wie bei einer Bergwanderung. Alle möchten im Prinzip zusammen zum Gipfel, sind auch mehr oder weniger dafür ausgerüstet. Während des Gehens differenziert sich die Gruppe: Der eine hat etwas vergessen, muss zurück. Dann die individuellen Gangarten: die eine schneller, die andere langsamer. Der eine möchte beim Gehen reden, der andere schnell und konzentriert den Weg zurücklegen. Wann wir irgendwie was in Gemeinsamkeit erreichen, wissen wir nicht. Neugierig auf die Aussicht sind wir bestimmt!
sx: In welche Richtung geht es?
Schwarz: Unser gemeinsames Ziel darf sich nicht in der Benutzung des Hauses erfüllen. Das ist ganz klar. Das Projekt „Seidlvilla“ gewährt Autonomie, aber nicht als Selbstzweck. Sie muss praktiziert werden, muss aber auch anderen zugestanden werden, muss von dem „Bürgerhaus“ nach außen getragen werden. Es muss uns gelingen, möglichst vielen einen Raum zu eröffnen, in dem sie selbstbestimmt – „eigensinnig“ – arbeiten können.
sx: Bisher werden die Räume eher von organisierten Gruppen benutzt.
Schwarz: Das ist die typische Anfangssituation. Die Menschen, die um ein bestimmtes Bedürfnis herum organisiert sind, suchen eine Heimstatt für ihre Treffen. Das ist legitim. Ein von morgens bis abends mit Gruppen belegtes Vereinshaus kann aber nicht unser Ziel sein. Das Haus soll zum Brennpunkt Schwabings werden, ein Ort von politischer und kultureller Bedeutung im weitesten Sinne. Die Schwabinger sollen das Haus als ihre Möglichkeit erleben und über das Angebot mitentscheiden. Dann wäre, um im Bild zu bleiben, die Wandergruppe Seidlvilla einem Ziel nähergekommen.
sx: Bisher geht das Angebot erst einmal von der SeidlviIla aus.
Schwarz: Ja, wobei das Angebot jedoch so gestaltet ist, dass der Prozess zu einem offenen selbstbestimmten Bürgerzentrum gefördert wird. Zum Beispiel durch Ausstellungen. Wir wollen nicht nur Bilder zeigen, sondern auch den Kontext der Entstehung verdeutlichen. So zeigen wir ab Oktober eine Ausstellung von Petzold, einem Schwabinger Maler, der jedoch nie in München ausgestellt hat.
sx: Wie kann man in der Seidlvilla Räume bekommen?
Schwarz: Indem man mir das Projekt vorstellt. Die endgültige Entscheidung fällt der Koordinationsausschuss des Bürgerzentrums.
sx: Es gibt auch eigene Veranstaltungen wie die mit Herrn Lattmann?
Schwarz: Das ist unser zweiter Schwerpunkt. Ich stelle mir weniger Lesungen und Vorlesungen als Werkstattgespräche vor. Jemand, der etwas weiß, gibt Auskunft, kann gefragt werden. Es kommt vielleicht zu einem Dialog und zu Anregungen für neue Aktivitäten. Das Haus ist für jede Veranstaltung im sozialen und kulturellen Bereich offen, solange sie keinen kommerziellen oder parteipolitischen Hintergrund besitzt. Das steht in der „Hausordnung“: Autonomie und Selbstverwaltung!
sx: Der Koordinationsausschuss hat da eine große Macht.
Schwarz: Ja, das ist auch nötig, um die Richtung beizubehalten. Aber diese Macht besteht in dem Experiment der Offenheit. Sonst wäre nicht zwanzig Jahre um dieses Haus gekämpft worden. Ein weiteres Prinzip: Alle Aktivitäten, die hier entstehen, müssen nach außen getragen werden. Dazu gehört so etwas wie die Verkehrsaktion in der Leopoldstraße. Oder ein anderes Beispiel: In unserem Musikkeller probt eine Sopranistin. Sie wird ihrerseits bald für das Haus ein Konzert geben. Die Nutzung ist auch eine Selbstverpflichtung, die aber natürlich nicht als Last, sondern als Lust empfunden werden kann. So entsteht Gemeinsamkeit: die eigenen Aktivitäten kommen allen zugute.
sx: Der Gedanke ist faszinierend. Wir von Schwabing Extra werden uns auch etwas überlegen. Eine ganz spontane Idee: Was halten Sie von einem öffentlichen Redaktionsgespräch jeden ersten Dienstag im Monat? Eine Art Werkstattgespräch, dessen Ergebnis auch in der Zeitung seinen Niederschlag finden könnte?
Schwarz: Genau so etwas hatte ich gemeint. Das wäre ein Beitrag für unser „Haus für Schwabing“, wie ich ihn mir vorstelle.
sx: Herr Schwarz, was ist Ihre größte Sorge?
Schwarz: Die gesellschaftliche Dummheit, die uns immer mehr in die Enge treibt und uns unser Leben schier unerträglich macht. Ob es nun die Raserei in der Leopoldstraße ist, das Zubetonieren, die schleichende Vergiftung von Kopf und Körper oder der Wahnsinn, Kriege zu führen und dabei die Vernichtung unserer Welt in Kauf zu nehmen, wobei die öffentliche Dummheit dies nicht zur Kenntnis nehmen will: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
sx: Was ist Ihr größter Wunsch?
Schwarz: Dass die Hoffnung, sich mit der Kraft der Phantasie diesem Wahnsinn widersetzen zu können, nicht trügt. Konkret ist es der Wunsch, dass sich in diesem Haus gemeinsam ein Überlebenssinn entwickelt. Dass wir nicht Opfer anonymer Vorgänge bleiben müssen, sondern dass wir Bedingungen schaffen können, die für uns und unsere Kinder Zukunft erlebenswert machen.
sx: Wir wünschen Ihnen und uns dafür viel Glück. Wir danken für dieses Gespräch.
Schwabing extra. Zeitung der Schwabinger Friedensinitiative 7/1991, 4.