Materialien 1992

Liebe Genossinnen und Genossen ...

Dieses Diskussionspapier ist nicht-öffentlich; es soll Grundlage oder ein Versuch
für die Diskussion unter uns sein.

Liebe Genossinnen und Genossen,

ein Vorschlag zur Praxis, den ich euch bitte, in euren Gruppen zu diskutieren. Mein Vorschlag
ist die Organisierung eines überregionalen autonomen Diskussionszusammenhangs (einmalig). Konkret stelle ich mir dies folgendermaßen vor: erstmal hier diskutieren, dann GenossInnen aus anderen Städten/Regionen auch individuell nachfragen, und nach einem ersten Meinungs- und Auffassungssammeln entweder die Organisierung angehen oder nicht. Meiner Meinung nach
hieße dies erstmal, über Kontakte/Freundschaften zu GenossInnen, die mann und frau aus IWF-, Anti-AKW-, Startbahn- und AntiFa-Zeiten kennt und schätzt, zu informieren. Diese FreundInnen hätten dann die Aufgabe zu überlegen, wer in der eigenen Stadt/Land/Fluss an einem derartigen Treffen Interesse haben kann oder sollte. Diese Organisierung bliebe erstmal nicht-öffentlich.

Und wer trifft sich? Es geht um gemischte, autonome Gruppen, nicht um antiimperialistische Gruppen, anarchistische Organisationen und ausschließlich getrennt arbeitende autonome Frauen- und Lesbenzusammenhänge. Dass es nicht um Aussortieren geht, sondern um eine Herangehensweise, versteht sich.

Vorspann zum akrobatischen Akt

Warum das Ganze? Überregionale Organisierung? Diese Frage habe ich mir selbst oft gestellt, versucht zu beantworten. Dabei versuchte ich in eine (scheinbar) erwartete Rolle zu schlüpfen:
du musst ein Ober-Guru-Papier schreiben, dass den Erwartungen an historisch-materialistische Analyse, selbstkritischer Geschichtsaufarbeitung, moralischen, revolutionären Ansprüchen und den patriarchalen Verhältnissen in der Szene gerecht wird und allen Fraktionen schmackhaft ist: für intellektuell Gesinnte nicht unter ‚konkret’ abdruckreifer Sprache, für Aktionsfreudige die nötige militante Härte, die Scharfsinnigkeit eines RZ-Papiers1 , für die Argusaugen der Frauen und emanzipierten männlichen Genossen das Insistieren auf patriarchale Verhältnisse und eigene, männliche Sichtweise, für Sozialrevolutionäre die Orientierung an Unterklassen, Klassenkämpfen, und für Antiimperialistische die weltweite Befreiung vom Imperialismus …

Die Folge war: ‚Angesichts der Dimension unserer Worte schleicht gleich einer gierig herum-
lungernden Katze unser Nihilismus heran’ (Nihilismus-Auffassung, dass alles Sein sinnlos und nichtig sei, bzw. autonome Spielart der Rechtfertigung für dasselbe), wie einige GenossInnen in einem Papier zur IWF-Kampagne2 schrieben. Ich war im Voraus erschöpft und alleine. Ich landete mit meiner Ungeduld und Arbeitswut schnurstracks wieder in der Froschperspektive autonomen Alltags [Froschperspektive – aus einem Brief von Helmut Pohl, 9. Juni 1974: oder es (Bürgerlich-
keit, Angst) kommt auf die unverschämt bescheidene Tour an – was haste denn schon drauf, reiß die Klappe nicht auf, taugt eh nicht viel. So der Weg raus, zum Zuschauer. Und Seite an Seite mit der Froschperspektive die Obersau, der Wahnsinnsanspruch: Wenn was sagen, dann aber für die Geschichte].

Und da passt ja auch alles. ‚Das diffuse „Erstmal vor Ort“ entwickeln, es kommt schon wieder eine neue Bewegung, Kampagne, sich erstmal kennenlernen, ich steig wieder irgendwann ein’ sind oft genug Rationalisierungen der Niederlagen und Unfähigkeiten.

Keine/r tut keiner richtig weh: solange alles verspricht weiterzugehen wie bisher, in Ordnung, sobald die Forderung herantritt, aus der eigenen ZuschauerInnenrolle herauszutreten, gibt es plötzlich woanders handelndes Subjekt zu sein. Da werden BerlinerInnen, HamburgerInnen und Autonome aus Freiburg Bedrohung für die mühsam erarbeitete Sicherheit, lösen die Angst aus, vor einem ‚autonomen Über-Ich’ mit leeren Händen dazustehen. Vielleicht gelingt es mit Trevi, EG 923, Großdeutschland (letztes Mal war es der 2. November4) den peinigenden Gewissensbissen das Maul zu stopfen, oder als schweigende Mehrheit auf solchen Treffen herumzuhocken. Das wars dann auch. Zerrieben zwischen überforderndem Anspruch und alltäglicher Wurstigkeit sind plötzlich viele keine Autonome mehr, nur irgendwie dabei, da und dort etwas vom Glanz der Autonomen gespiegelt. Die großen schwarzen Blöcke, gelesene ‚unzertrennlich’ und ‚radikal’, Hunderte Brandanschläge und Aktionen, besetzten Häuser und Zentren, ‚Libertäre Tage’ und Zaunschlachten verflüchtigen sich. Nur noch Kulisse, irgendwo abgelegte Hassmasken/Leder-
jackenkostüme, keine/r war dabei, das Ganze ein großartiges Schauspiel?

Das eigene Tun erscheint wohl vor dem ‚Ganzen der Weltrevolution’ vielen als nichtig, nicht als Teil oder Möglichkeit. Natürlich ist dann Rebellion gegen das ‚Ganze’ vorprogrammiert: es wäre abstrakt, abgehoben, belastend, lähmend, erdrückend, rigide. Revolution kann aber nicht etwas Übergeordnetes sein, das den Menschen entfremdet gegenübertritt. Da liegt es auch an den ‚Starken’, aus dem Schein herauszutreten, sich weder mit glänzendem Intellekt einen Heiligen-
schein zu verpassen, noch als ‚Alter’ nur das Pokerface des schon alles kennenden herumzutragen, als HamburgerIn sich im Hafenstraßensieg zu sonnen oder als BerlinerIn im Wetterleuchten der 1.Mai-Demonstrationen. Welche verheerenden Folgen dies hat, zeigen die verkorksten Versuche von Autonomen, Metropolenpolitik in ihre Kleinstädte zu übertragen.

Warum überregionale Organisierung? Weil eine Ebene, auf der diese selbstzerstörerischen Ver-
hältnisse angegriffen werden sollten, die der westdeutschen Militanten/Autonomen ist. Die Verflüchtigung und das Zerbröseln revolutionärer autonomer Politik anzugreifen, geht nur in organisierter Kritik. Für sich alleine hat keine Gruppe die notwendige Kraft, weil es nicht nur eine Sache der theoretischen Formulierung von Kritik, sondern auch eine von organisierter Gegen-
macht ist.

Aufschwung zum Salto mortale

Ein wesentlicher Schnittpunkt für die Lähmung autonomer Politik ist das Organisierungsproblem. Die Autonomen sind (von der besten Seite gesehen) ein durch Emanzipation und Kollektivierung von Erfahrungen entstandener Erfahrungs-, Organisierungs- und Kommunikationszusammen-
hang, mit allen Brüchen und Gräben. Sie sind ein Ergebnis der Radikalisierung in Bewegungen, des Verlassens von Bewegungen, des Zerfalls der K-Gruppen und Sponti-Linken, der Polarisierung gegen das grün-sozialdemokratische Spektrum, der Autonomieentwicklung gegenüber antiimpe-
rialistischen Gruppen, der Trennung von gemischten und autonomen Frauen-Zusammenhängen, der Bündnispolitik mit der BRD-Restlinken, um einige Prozesse anzudeuten.

Selbst wenn das Organisierungsproblem innerhalb der Autonomen als nicht gelöst erkannt ist und akzeptiert wird, ist es mit verschiedenen Ängsten besetzt, von festgefahrenen Tabus blockiert, die negative Erfahrungen aus den oben angedeuteten Prozessen festschreiben und nicht produktiv verändern und diskutierbar machen. Diese Tabuisierung bewirkt, dass die Autonomen das Organi-
sierungsproblem wie ein unappetitliches Ekelpaket vor sich herschieben, an dem sich keine/r die Hände dreckig machen will, und damit die praktizierten Organisierungsformen der Analyse unzu-
gänglich machen. Einige dieser Negativfestschreibungen: die Angst vor ‚Überorganisierung’, aus dem eigenen Erleben von in Strukturen sich zu Tode rödeln, dem Auseinanderklaffen von Zielen und Kräften, was nur durch Disziplin und Moral zusammengehalten wird; da oft Moral Motor dieser Organisierung ist, die sich reaktiv ständig beweisen muss, werden die eigenen Kräfte nicht strategisch/taktisch einsetzbar; zweitens die weitverbreitete Angst vor ‚ML-Strukturen’ ohne genaue Auseinandersetzung mit ihnen; eine autonome Partei/Avantgarde würde tatsächlich nur die Fehler der K-Gruppen wiederholen. Das Tabu ML verhindert jedoch oft die tiefergehende Auseinandersetzung mit eigenen parteiförmigen Strukturen, die sich wie von alleine bilden. Was z.B. auch die größten KritikerInnen der Elche, A-Gruppen wie die FAU beweisen, die selber welche sind.

Was heißt es, wenn Autonome das Organisierungsproblem mit dieser Tabuisierung vor sich herschieben wie ein Ekelpaket? Angesichts dieser Frage blass werden und auf die Selbsttätigkeit des autonomen Individuums verweisen und bei ‚jeder ist sein eigener Herr/Frau’ landen?

Absturz ins doppelte Netz

Nehmen wir eine typische autonome Vollversammlung: die schweigende Mehrheit sitzt einigen RednerInnen gegenüber, solange es um die politische Legitimation/Einschätzung einer Aktion geht; das Bild ändert sich geringfügig, wenn es um ‚vermummt oder nicht vermummt’ geht. Ironisch gesagt sitzt allen TeilnehmerInnen auf diesen Treffen der Anspruch der Entwicklung
der ‚Assoziation freier Menschen’, frei nach Marx, – kommunistischer Verhältnisse – gegenüber. Abgesehen davon, ob Einzelne und Kleingruppen aus ihrem alltäglichen Leben dazu in der Lage wären, und die politischen Widersprüche bei solchen Treffen groß sind, was hindert z.B. relativ Gleichgesinnte an einer solchen Organisierung? Das heißt nicht nach einem äußerlichen Modell, sondern in solchen konkreten Situationen, in denen sich Organisierung praktisch aufdrängt und mensch jedem Redebeitrag und den in Schweigen Versunkenen die emotionalen Abwehrkämpfe anmerkt.

Ein Gedankenspiel:

Die Autonomen verhalten sich gegenüber den Autonomen wie der citoyen zur Partei – der altruistische citoyen (selbstloser Staatsbürger), entweder passiver Anhänger, oder pflichtbewusster Parteisoldat, überlässt konkrete Realpolitik einer handvoll FunktionärInnen (die Reala/o-Autonomen).

In den von der Autonomen-Partei organisierten Rahmenbedingungen (Demonstrationen, Kampagnen) sollte sich nach diesem Organisationsmodell die andere Seite des Bürgers, der egoistische Bourgeois verwirklichen – als Teilhaber an der Macht der Partei, und über den ‚Erfolg’ der sinn- und identitätsstiftenden Ideologien. Die AnhängerInnenschaft der Autonomen-Partei bleibt ihr nur solange treu, wie ihre egoistischen Interessen auf dem Markt der Identitäten durch die Parteipolitik konkurrenzfähig bleiben, sich verwirklichen. Ein Beispiel: der verwegene Fighter oder die kompromisslose Fighterin sind Identitäten, die sich nur im Rahmen tatsächlicher Kampfhandlungen (und wenn der Kampf nur diesen Sinn stiftet) realisieren lässt. Lassen sich militante Auseinandersetzungen aufgrund von Kräfteverhältnissen oder inneren Krisen nicht verwirklichen, kann das so zusammenschrumpfende autonome Individuum sich entweder durch vermehrte Reisetätigkeit oder Anekdotenerzählen aufrechterhalten, wird aber, je länger dieser kampflose Zustand andauert, immer mehr Energie in andere Identitäten verlagern (und manche Autonome beweisen sich dann in der Produktionsschlacht).

[Natürlich sind die Verhältnisse nicht so reduziert, wie oben dargestellt, die ‚Identitäten’ komplexer. Zum Beispiel gibt es innerhalb der Autonomen eine einigermaßen funktionierende rotation als Antiinstitutionalisierungsmittel; und so findet mensch auch autonome KaderInnen beim Spülen in der VoKü5 . Aus diesem Widerspruch zwischen ‚institutionalisierter’ Politik ohne institutionalisierter Identität von Person und Funktion erklärt sich auch die vergebliche Suche des Verfassungsschutzes nach einem Autonomen-ZK und die detektivische Neugier der ‚Radikalen Linken’ für den geheimnisvollen Kopf der Autonomen. Das Wirken der bürgerlichen Gesellschaft ist ihnen genauso verschleiert wie auch viele AkteurInnen blind dafür sind. Ergänzend lässt sich zufügen, dass die Konstruktion eines autonomen Individuums nicht nur seinen Ursprung in der kapitalistischen Gesellschaftsformation hat, sondern ebenso in der patriarchalen Ideologie männlicher Freiheit und Unabhängigkeit (gut analysiert im ‚Vom Mythos der Unanhängigkeit’).]

Eine Möglichkeit aus diesen ungelösten Widersprüchen innerhalb der Autonomen wäre, dass die ‚politische Führung’ durch eine wirkliche, institutionalisierte Führung Konkurrenz bekommt, die den frustrierenden Zustand militärisch lösen will, im Bündnis mit einer ‚militanten Reformismus-Fraktion’, die mit moralischer Politik den Militarismus grob legitimiert. Dieses Bündnis könnte die revolutionäre Tendenz innerhalb der Autonomen isolieren.

[Mit revolutionärer Tendenz ist weder eine feste Personengruppe noch eine ideologische Fraktion der autonomen gemeint, mit revolutionärer Tendenz sind die autonomen gemeint, die sich den oben genannten Problemlösungen verweigern ohne notwendigerweise Alternativen vorweisen zu können.]

Dieser mögliche Isolationsprozess wird durch die inneren Schwierigkeiten der revolutionären Tendenz verstärkt. Zum Beispiel wird mit dem Militarismus-Vorwurf als moralische Anklage oder ausschließlich intellektueller Standpunkt den anderen Tendenzen militante Praxis überlassen.

In der neuen Linken der 70er Jahre war die politische Diskussion um Militanz/bewaffneten Kampf mit dem Konzept ‚Stadtguerilla’ und der damit verbundenen Rezeption der Tupas, Ches, Maos und anderer wesentlich verankerter, was nichts über die politische Richtigkeit aussagt.

Dass es auch innerhalb der Autonomen politische Standpunkte gibt, zeigen die Reaktionen nach dem 2. November 1987 (Schüsse an der Startbahn West), die leider als Diskussion nicht weiterging.

Trotz eigenem Unglück über die mangelnde Kontinuität und Beliebigkeit der autonomen Be-
wegung wird in der revolutionären Tendenz auch aus der Angst vor der eigenen Bürgerlichkeit
jede gründliche inhaltliche Auseinandersetzung um eigene Organisierungsunfähigkeit und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen sich von Leibe gehalten. Die weit verbreitete Rettung ins Kollektiv ohne diese Analyse kann nur vorrübergehenden Schein politischer Organisierung aufrechterhalten, bis auch dem letzten Selbstkritischen die politische Belanglosigkeit auffällt;
sie beantworten vielleicht die persönliche Überlebensfähigkeit emotional und im Alltag, sind
aber für sich alleine kein Ersatz für revolutionäre Politik (wobei jetzt nicht die herrschende Kopf-/Bauchaufspaltung nachvollzogen werden soll).

Die politische Diskussion sollte die Sozialcharaktere/Charaktermasken/Versteinerungen offen machen, nicht als Makel, Schuld und Schande betrachtet, und auch nicht in Prozesse der moralischen Anklage, Gewissenserforschung und öffentlichen Schuldbekenntnisse versackend, sondern diese Unvollständigkeit als Ausgangspunkt nehmend. Die Angst, in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft ohne Identität nackt dazustehen, ist real, und äußert sich in der autonomen Bewegung in der Trennung von Männern und Frauen, die es Frauen vielleicht erst ermöglicht, nackt dazustehen ohne Angst.

… und Abgang mit glücklichem Ausgang

Wenn wir beim analysierten Bild einer Autonomen-Partei bleiben, würde das auch unter Autonomen kursierende Motiv der autonomen KaderInnen einen realen Gehalt finden in der Analyse als Parteiapparat. Dieser Parteiapparat als ‚nichtinstitutionalisierter’, aber sich immer wieder neu schaffender ähnelt verblüffenderweise den institutionellen, formalen Vorstellungen der Ur-Grünen als Antiparteien-Partei. Die Autonomen als Version dieses Konzepts?

Eine Form autonomer Organisierung ist die praktische und politische Koordination autonomer Gruppen; Beispiel Demonstration: gemeinsame politische Diskussion und praktische Aufgaben-
teilung: Reden, Lautsprecherwagen, Demoplakate, speziellere Aufgaben übernehmen spezialisierte Gruppen (Sanis, EAs6 ). Die Vorbereitungstreffen werden bei längerem Fortbestehen selbst zu festen Gruppen (z.B. revolutionäres Block-Plenum in Hamburg).

Neben der Gefahr der institutionalisierten Verselbständigung besteht die Gefahr, dass die organi-
sierenden Gruppen als Ordnungs- und Kontrollfaktor auf Demonstrationen auftreten. Die Proble-
me/Grenzen derzeitiger autonomer Organisierung sind in erster Linie keine technischen, sondern drücken politische Grenzen und Probleme aus. In der Arbeitsteilung autonomer Gruppen, ob pragmatisch praktisch (Sanis, Infoläden, Voküs, Zentren) oder pragmatisch politisch (Teilbereiche: Anti-AKW, AntiFa, usw.), die versucht wird, möglichst horizontal (im Gegensatz zu vertikaler Arbeitsteilung, d.h. hierarchischer, geschlechtlicher Arbeitsteilung) zu organisieren, entwickelt sich eine paradoxe Situation; der Widerstandsbetrieb funktioniert, nur der die einzelnen Betriebsein-
heiten zusammenhaltende Sinn (autonome Identität) zerrinnt, je länger das Unternehmen läuft, ohne Markterfolge erzielen zu können. Alle Abteilungen tun ihr Bestes, einschließlich der Werbe- und Marketing-Abteilung, um das Unmögliche wirklich zu machen: mit revolutionärer Politik in bürgerlicher Öffentlichkeit, befriedeter ArbeiterInnenklasse und kultureller Verblödung auf dem Meinungs-, Kultur- und Modenmarkt erfolgreich zu sein.

Da Erfolge ausbleiben, häufen sich Kündigungen, Arbeitsverweigerung, Urlaubsanträge und Blaumachen oder wird pragmatisch Kurzarbeit gemacht (d.h. der Schein gewahrt). Die Katze beißt sich in den Schwanz und die autonomen ArbeiterInnen im selbst verwalteten Betrieb Autonomia Doria GmbH beschleicht das Gefühl, dass da von Anfang an der Wurm drin war. Kein noch so verbissener Vorarbeiter oder resolute Abteilungsleiterin gelingt es dann, Arbeitsmoral und Lust aufrecht zu erhalten; beim Betrieb bleibt mensch aus Gewohnheit, oder weil es immer noch netter als überall anders ist.

Was tun?

Als Erstes wäre von der Herangehensweise Abstand zu nehmen, auf dem Markt der Meinungen, Identitäten und Moden konkurrenzfähig sein zu wollen. Nur in der Negation und im Angriff auf die kapitalistische Warengesellschaft und ihre Vermittlungen (Staat/Parlament, Markt/Gesellschaft) bestände eine Chance der Verwirklichung revolutionärer Politik. (In der Verweigerung der Institutionalisierung/Formalisierung der autonomen Strukturen ist dieser Moment enthalten). Diese Politik ist widersprüchlich, weil nur durch die Revolution beendbar. Aber durch die Distanz zu den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung sind taktische und strategische Überlegungen erst möglich. Wie muss sich dies auf die autonome Organisierung auswirken? Diese Frage kann erst mit einem Verständigungsprozess autonomer Gruppen beantwortet werden, in den materialistische Analyse und Theorie ein ganz anderes Gewicht als bisher haben sollte; dieser Verständigungsprozess selbst müsste eine neue Qualität ausdrücken.

Warum beginnt ein solcher Verständigungsprozess nicht, obwohl die theoretische Kritik fragmentarisch (wie dieser Text) von Einzelpersonen und Gruppen geäußert ist (viele behaupten zumindest, dass es für Sie nichts ‚Neues’ wäre)? Entweder liegt es daran, dass die Autonomia GmbH so selbstverwaltet ist, dass keine und keiner den Mut aufbringt, die ‚Auflösung/Neuorgani-
sierung’, die ja nie vorgesehen war, auf den Tisch zu bringen. Oder dass eine informelle Hierarchie im Produktionsprozess bestände, die in der Arbeitsteilung nur die Kompetenz für den eigenen Arbeitsplatz/die lokale Betriebseinheit zuweist, und darüberhinaus jede Kompetenzüberschreitung Anmaßung wäre. Die informellen Chefs/Betriebsräte tun eher ihr Bestes, um den Betrieb am Laufen zu halten, und verkünden, dass die Zukunft des Betriebs bei den Planungsabteilungen in besten Händen wäre. Und viele ArbeiterInnen glauben ihnen das gerne.

Wie anders wäre es zu erklären, dass Analyse und Kritik bei einer gewerkschaftlich-konstruktiven Form stehenbleibt, oder die vehemente radikalistische Kritik mit Betriebswechsel verbunden
wird. So entsteht kaum oppositionelle Kontinuität: manche 86er Autonome kennen weder ‚Große Freiheit’ noch ‚Krasse Zeiten – Graue Morgen’ (autonome Betriebszeitungen bis 1984). Und manche 90er Autonome wissen schon nichts mehr über die ‚unzertrennlich’ (autonome bundes-
weite Betriebszeitung bis 1988/89).Es wäre also an der Zeit, wenn es weiter autonom in die 90er gehen soll, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Und wenn wir’s nicht schaffen, wer dann?

Heinz, Heizer aus’m Maschinenraum 17

STIMMT MIT UNS FÜR DIE BETRIEBSVERSAMMLUNG !
WÄHLT LISTE 10 !!

:::

1 RZ = Revolutionäre Zellen.

2 IWF = Internationaler Währungsfont.

3 Trevi: Mitte der 70er Jahre beginnt die Kooperation der nationalen Polizeien in der Europäischen Gemeinschaft (EG). Das von den Innenministern der Mitgliedstaaten 1975 beschlossene Gremium nennt sich TREVI (Abkürzung für Terrorisem, Radicalisem, Extremisem, Violence Internationale) und gliedert sich in zwei Abteilungen: In TREVI 1 finden sich Vertreter der politischen Polizeien und Inlandsgeheimdienste zusammen und bauen ein Netz von Verbindungsbüros auf. TREVI 2 befasst sich mit Fragen der Polizeiausbildung und Polizeitechnik. Da die EG zu diesem Zeitpunkt keine Zuständigkeit für Fragen der Innen- und Rechtspolitik hat, befindet sich TREVI in einem vollständig unkontrollierten Raum informeller exekutiver und polizeilicher Kooperation neben den eigentlichen Strukturen der EG. Mitte der 80er Jahre wird TREVI im Zuge der Modernisierung des EG-Binnenmarkts zu einem politischen Planungsgremium ausgebaut, das aber weiterhin jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen ist. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Maastricher Vertrag wird die bis dato informelle TREVI-Kooperation zur formellen Dritten Säule der EU (Recht und Inneres innerhalb der europäischen Union) erhoben. – EG ’92: Die politischen und ökonomischen Systeme in Osteuropa lösen sich auf, Grenzen werden geöffnet und Wanderungsbewegungen entstehen. Aber auch aus Ländern der „Dritten Welt“ erfolgt zunehmend Zuwanderung. Mit der Intensivierung des ökonomischen und politischen Integrationsprozesses in Westeuropa (EG ’92, europäischer Wirtschafts-
raum) beginnt mit einer neuen Visa- und Flüchtlingspolitik die Reduzierung von Zugangsmöglichkeiten an den EG-Außengrenzen und die sich abzeichnende Abschottung der „Festung Europa“.

4 Vom 2. bis 8. November veranstaltet die Freie Internationale Universität ein Symposion unter dem Motto „Die Ursachen liegen in der Luft“. Dabei ist auch der von Joseph Beuys 1987 initiierte „Bus für direkte Demokratie in Deutschland“, der das Recht auf Volksabstimmung fordert.

5 VoKü = Volksküche.

6 Sanis = Sanitäter; Eas = Ermittlungsausschüsse.


Manuskript, Autonomes Material, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.