Materialien 1992
Demonstration zum „Tag der Deutschen Einheit“ ins Westend
Mit einem Protestzug gegen Sozialabbau und großdeutschen Wahn begingen etwa 400 Menschen den 3. Oktober. Thema der Auftaktkundgebung war neben der massiven Verschärfung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Mietwucher, Steuererhöhungen …) in alten wie „neuen“ Bundesländern infolge der deutschen Vereinigung die besondere Situation von Flüchtlingen und hier lebenden Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
Einen Ausdruck fand diese bereits wenige hundert Meter nach Beginn der Demonstration, als sich in der Herzog-Heinrich-Straße zum Schutz der Zentrale des Neonazis Althans aufgezogene Angehörige der „Unterstützungskommandos“ auf einige Immigranten stürzten, sie schlugen, ihnen ein Transparent entrissen und einen von ihnen verhafteten. Ihm wurden erst nach vier Stunden die Handschellen abgenommen; er wurde von Polizisten beschimpft („Schon wieder ein Asylant! Werden wir euch denn nie los?“) und bedroht („Du kannst von Glück sagen, wenn Du vor heute Nacht hier rauskommst, sonst …“). Grotesk war der Verhaftungsgrund, der ihm genannt wurde: Das Transparent, das er mitgetragen haben soll, zeigte neben der Aufschrift „Gegen Faschismus“ ein Hakenkreuz, das an einem Galgen baumelte: Damit war nach Polizeiauffassung der Tatbestand der „Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole“ erfüllt! Stellt sich nur die Frage, warum während eines fast zeitgleich in Dresden stattfindenden Aufmarsches von Neonazis der Hitlergruß gezeigt und Parolen wie „Juda verrecke“ geplärrt werden konnte, ohne dass für die ebenfalls anwesende Polizei Anlass zum Einschreiten gegeben war …
Trotz des Polizeiangriffs setzte die Demonstration ihren Weg fort, der über die Schwanthalerstraße am Wiesngelände vorbei führte, auf der Tausende den „Tag der Einheit“ zum Anlass nahmen, sich sinnlos zu betrinken. Die Abschlusskundgebung auf dem Messeplatz wurde nach kurzer Zeit durch einen erneueten Angriff gestört, als sich Bereitschafspolizisten ohne Vorwarnung auf eine Immigrantin stürzten und ihr gewaltsam eine Plastiktüte entrissen: Der Inhalt müsse kontrolliert werden. Der Hinweis, dass das doch auch an Ort und Stelle vor den Augen der Eigentümerin geschehen könne, wurde auf nach Herrn Streibl landes-übliche Art beantwortet: Wegdrängen und -stoßen. Bedenklich erscheint allerdings die Gezieltheit, mit der der rustikale bayerische Charme sich gegen Leute richtete, deren Aussehen sie als Nichtinhaberinnen oder Nichtinhaber der deutschen Staatsangehörigkeit verdächtig machte. So wurden die eigentlichen Inhalte der Redebeiträge von Überlegungen überschattet, ob zu all den Schwierigkeiten der hier lebenden Immigrantinnen und Immigranten künftig noch kommt, nicht mehr gegen die gerade sie bedrohende Welle faschistischer Gewalt auf die Straße gehen zu können, ohne in besonderen Ausmaß Polizeiübergriffen ausgesetzt zu sein. Hier sollte besondere Aufmerksamkeit und Solidarität entwickelt werden.
fron
Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 4 vom November/Dezember 1992, 6.