Materialien 1992

Die intellektuelle Feuerwehr

Giovanni di Lorenzo über Lichterketten, deren Kritiker und deutsche Rechthaberei

Di Lorenzo, 33, ist einer der Initiatoren der Münchner Lichterkette vom 6. Dezember 1992. Der in Schweden geborene Italiener arbeitet als politischer Reporter bei der Süddeutschen Zeitung in München.

Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los: Als wir vor acht Wochen zusammen mit Tausenden von Helfern die Münchner Lichterkette gegen Ausländerhass und Rechtsradikalismus organisierten, hatte sich niemand träumen lassen, dass in ganz Deutschland ein Lichterkettenfieber ausbrechen würde.

Merkwürdige Symptome treten auf – wenn plötzlich Medienkonzerne Demonstrationen organisieren und die fürwahr bewegende Losung ausgeben: Wär’’ doch gelacht, wenn wir in Allerweltshausen nicht das schafften, was die Münchner auf die Beine gestellt haben! Wenn der Verband Deutscher Kerzenhersteller eine Ausstellung mit den schönsten Licht-Bildern veranstaltet und ein Automobilhersteller mit einer Aufnahme von der Münchner Kundgebung dem drohenden Absatzschwund deutscher Markenprodukte entgegenzuwirken versucht.

Wenn aus Aufrufen zu einer Lichterkette das Wort „rechtsradikal“ herausgestrichen wird, weil es zu „politisch“ sei, oder auf einer der vielen die Lichterketten begleitenden Veranstaltungen der bekannte Asylbewerber Roger Moore sich dafür bedankt, dass die Deutschen ihre Ausländer so gut behandeln.

Überhaupt lässt sich einwenden, dass die unerwartete Inflation der Lichterketten die Aushöhlung auch der besten Absicht zur Folge hat, die Form der Aktion im wahrsten Sinne des Wortes längst den Inhalt überstrahlt und in der beinahe zwanghaft anmutenden Wiederholung der Demonstrationen wohl auch etwas sehr Deutsches zum Vorschein kommt. Vergleichsweise klein indes sind diese Überraschungen noch gegen jene Erleuchtung, die uns in den letzten Wochen einige Kritiker der allgemeinen Kerzenverschwendung gönnten.

Von links meldete sich zuerst Eike Geisel zu Wort. In der Tageszeitung kanzelte er die Teilnehmer der Münchner und der nachfolgenden Hamburger Lichterkette als der Gefühlsduselei verfallene Vollidioten ab und bescheinigte im gleichen Atemzug nur den eierwerfenden Autonomen bei der Berliner Großkundgebung vom 8. November einen politisch glaubwürdigen Protest gegen Rechts.

Von ebendieser Seite trat dann, als Dödel vom Dienst, Heinrich Lummer auf den Plan. Er hat eine einheitliche Organisationszentrale für alle Lichterketten ausgemacht, gesteuert von einem „Volksfrontbündnis“ – er allein allerdings weiß bislang, wo sich diese befinden soll.

Schließlich schaltete sich auch noch Brigitte Seebacher-Brandt ein, die sich freilich gleich als intellektuelle Feuerwehr aufspielte: Sie sieht schon in der Symbolik der Demonstranten, im vermeintlichen Feuerzauber, eine direkte Verbindung zum Geist des Nationalsozialismus. Weh, wabernder Wahnsinn!

Auf die Vorstellung, eines Tages ausgerechnet eine Bürgerinitiative wider den Rechtsradikalismus in Schutz nehmen zu müssen gegen den Vorwurf, sie sei in Wirklichkeit ein Traditionsverein zur Pflege nationalsozialistischen Brauchtums, auf diese Vorstellung wäre auch der phantasiebegabteste Mitstreiter in unserer Gruppe allenfalls unter Folter gekommen.

An diesem teutonischen Kasperltheater befremdet indes nicht so sehr der Umstand, dass Herr Lummer oder Herr Geisel oder Frau Seebacher-Brandt am Erfolg der Lichterketten als publizistische Trittbrettfahrer teilnehmen – das ist ihr gutes Recht, mögen ihre Vorwürfe noch so unverschämt sein.

Aber die Rechthaberei, mit der diese und andere Gesinnungskommissare Millionen von demonstrierenden Bürgern aburteilen, zeugt auch davon, wie sehr sich ein Teil der aus Parteischulen und Protestbewegung hervorgegangenen politisierenden Kaste von einem Phänomen düpiert fühlt, das in seiner Mobilisierungskraft und Wirksamkeit alles übertrifft, was sie selbst jemals versucht hatte. Schlimmer noch: Von niemandem wird sie dabei ernsthaft vermisst.

Die Münchner Lichterkette hat Parteien und andere politische Organisationen von der Teilnahme ausgeschlossen. Dahinter stand weniger die Absicht, sich den ebenso wohlfeilen wie demokratiefeindlichen Politikverdruss zunutze zu machen; es war vielmehr ein Ausdruck der Missbilligung: Die sollte jene Politiker treffen, die drei Monate gebraucht hatten, um nach dem Pogrom von Rostock ihre Terminkalender auf ein Datum für eine Protestveranstaltung zu koordinieren; die den massenhaften Zustrom von Asylbewerbern für die unterschiedlichsten Ziele instrumentalisierten; die den Kampf gegen den brandschatzenden und mordenden Mob mit der Begründung aufnahmen, das Ansehen Deutschlands im Ausland stehe auf dem Spiel.

Die Münchner Lichterkette setzte sich aber auch gegen jene politischen Gruppen gerade der Linken ab, deren Protestrituale dem Demonstrationslaien inzwischen nur noch zur Abschreckung gereichen: Am 9. November versammelten sich in München immerhin 40.000 Menschen zu einer kurzfristig einberufenen Kundgebung gegen Nazis; viele von uns waren dabei. Aus einem Lautsprecherwagen wurde die Internationale abgedudelt, und jede noch so kleine Gruppe im „Aktionsbündnis“ beharrte penetrant auf den eigenen Forderungen, egal, ob es um die Rechte der Schwulen und Lesben aus München-Haidhausen ging oder um den Befreiungskampf der Kommunistischen Partei in Kurdistan.

Mit einigem Pathos beklagt der Achtundsechziger Geisel, die Lichterketten seien ein „Begräbnisritual des politischen Protests“. Er hat ja recht: ein Begräbnis für die eben erwähnten Formen des Protests. Nur verschone man uns mit der Leier, dass diese im Gegensatz zu unserer zielgerichtet, also politisch seien und vor allem gefeit gegen jede Art von Manipulation.

Wie anders doch der Eindruck jenseits deutscher Grenzen: Am Abend des 9. November sah ich in Turin die Spätnachrichten des italienischen Fernsehens. Aus 31 Städten wurden Demonstrationen von Schülern und Studenten gemeldet. Ihre Losung „Wir sind alle Juden“ war die spontane und selbstverständliche Reaktion auf Aufkleber, die in den vorangegangenen Tagen beispielsweise in Rom an Geschäften zu lesen waren, mit der Aufschrift: „Kauft nicht bei Juden!“

Das war, vier Wochen später, das wirklich Bewegende an der Münchner Lichterkette: dass es auf die Barbarei auch in Deutschland eine Antwort der zivilisierten, demokratischen Gesellschaft gibt, die sich dazu selbst aufrufen kann – zu einem Zeitpunkt, dies ist offenbar schon vergessen, an dem keineswegs klar erschien, ob die Molotowcocktails werfenden Glatzen nicht bereits die Avantgarde der schweigenden Mehrheit darstellten.

Nicht ein völkisch-mystisches Gemeinschaftsgefühl ergriff die Menschen – das Schweigen, die Kerzen und Lampions waren ja ohnehin eher bescheidene Symbole des Protests -, es war auch kein kitschiges „Mein Freund ist Ausländer“-Happening (was dem Lummer seine Volksfront, ist für linke Betonköpfe das Klischee vom multikulturellen Eiapopeia). Es war die urdemokratische Erfahrung von Partizipation und Intervention: Zehntausende von Bürgern hatten in den fünf zurückliegenden Wochen mitgeholfen, Nachbarn, Freunde und Kollegen zu überzeugen.

Zwar sollte man den daraus erwachsenden, inzwischen auch demoskopisch messbaren Stimmungsumschwung nicht überschätzen, von dem niemand weiß, wie lange er anhalten wird (in Österreich scheint er allerdings sogar einen Haider im Zaum gehalten zu haben): Aber wahr ist auch, dass die Lichterkette gerade Ausländern und Juden, nicht nur in unserer Initiative, wieder Mut gemacht hat, in Deutschland zu leben. Das kann man als „Betroffenheitsduselei“ lächerlich machen. Nur ist dieser Spott schwer zu ertragen von Leuten, die zuvor nichts Geeignetes taten, um der Gewalt des Pöbels entgegenzutreten.

Genug: Lassen wir, bevor alles mit landesüblicher Gründlichkeit zerredet ist, die Kirche im Dorf. Die Lichterkette war nur ein Zeichen, wenn auch ein wichtiges, nicht einmal ein Mittel gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhass. Jedes Zeichen verändert durch Wiederholung seine Bedeutung. Andererseits: Hätte einer von uns dem Kolping-Vorsitzenden, der in seinem oberpfälzischen Dorf eine Lichterkette organisierte und deswegen von ortsansässigen Nazis belästigt wurde; hätte man den Studenten, die in Essen 300.000 Menschen mobilisierten, im Ernst eine einstweilige Verfügung ins Haus schicken sollen mit dem Hinweis, dass die Lichterkette beim Europäischen Patentamt in München unter Urheberschutz gestellt worden sei?

Man ist versucht, einen berühmten Satz von Willy Brandt abzuwandeln: In Deutschland hat man schon Schlimmeres gesehen als ein paar Millionen Menschen, die gegen den Fremdenhass demonstrieren. Im übrigen kann die Kritik ausschließlich an der Form der Aktion genauso eine Alibiveranstaltung zur Beruhigung des eigenen Gewissens werden (von der damit verbundenen Selbstdarstellung ganz zu schweigen) wie das bloße Hochhalten von Kerzen.

Der wesentlich schwerere Kampf, der undankbare, weil unspektakuläre, ist jetzt auf lange Zeit erst einmal im kleineren Kreis fortzuführen, dort, wo die Zivilcourage jedes einzelnen gefordert ist. Wir wollen uns aber unbedingt vorbehalten, eines Tages wieder auf die Straße zu gehen.

Soviel kann für diesen Fall schon vorausgesagt werden: Eine Lichterkette wird es bestimmt nicht werden.


Der Spiegel 6 vom 8. Februar 1993, 210 ff.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: AusländerInnen

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