Materialien 1992

Gaddafi, Kronawitter und die Katastrophe im Container

Flüchtlingspolitik in München

1. Flavour Icecube oder: Wer nimmt hier wem etwas weg?

OB Kronawitter ist genau im Bilde: Rabenschwarze Menschen aus Afrika dringen in Scharen nach München ein und halten das deutsche Sozialwesen zum Narren. „Fast keiner hat einen Pass. Sie geben lächerliche Namen an. Einer hat sich Flavour Icecube genannt, was soviel heißt wie Eiswür-
fel mit Geschmack.

Eine Woche später, so berichten die Dolmetscher, kommen sie wieder unter anderem Namen und kassieren erneut Sozialhilfe. Die halten uns doch zum Narren.“ (Kronawitter im „Spiegel“ Nr. 10/ 92) KV-Referent Uhl weiß aber noch mehr und die Münchner Boulevardpresse kennt alle Details: Bei den allermeisten Flüchtlingen aus Nigeria, die dieser Tage in München um Asyl ansuchen, handelt es sich um Angehörige von Libyen’s Gaddafis demobilisierter Söldnerarmee aus dem Tschad-Konflikt, die zum Teil „bis auf die Zähne bewaffnet“ sind. Das Söldnergerücht wurde wenig später als Lüge entlarvt, hat aber, ebenso wie die populistische Kampagne des sozialdemokrati-
schen Stadtchefs auf Kosten der Flüchtlinge ihre Wirkung in der Münchner Bevölkerung nicht verfehlt. Beides sind Mosaiksteine eines nationalen Projektes, das anhand der Frage der Flüchtlin-
ge eine Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft von rechts bis grün erreichen möchte. Alle sollen sich einig sein, dass einfach zuviel Fremde im Land sind, dass die Fremden gefährlich sind – besonders wenn sie eine schwarze Haut haben – und dass die „Asylanten“ Betrüger sind, die der deutschen Bevölkerung auf der Tasche liegen. Dazu kommt noch die absurde Verknüpfung von realexistierenden sozialen Problemen wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Verelendung mit einer künstlich aufgebauten „Asylfrage“. In diesem Zusammenhang ist es kein Wunder, dass das neue Asylverfahrensgesetz, welches eher den Namen Asylabschaffungsgesetz verdient hätte, den Bundestag in erster Lesung ohne nennenswerten Wiederstand bereits passiert hat. Dieses Gesetz schreibt de facto für die Unterbringung von Flüchtlingen und ihren Familien die Lagerhaft als Norm fest, verkürzt den Rechtsweg in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise und verletzt in seinen einzelnen Bestimmungen elementare Menschenrechte. Menschen, die sich vor Verfolgung, Krieg und Elend in Sicherheit bringen wollten, werden somit erneut Opfer von Verfolgung – nicht nur durch die Übergriffe faschistischer Banden, sondern auch durch den Staat, der seinen Rassis-
mus in Gesetze gießt. Eine Solidarisierung mit den Verfolgten soll durch den Aufbau eines Images der Flüchtlinge als Verbrecher, Schmarotzer und Betrüger entgegengewirkt werden.

Wie unverschämt diese Zuschreibungen aber sind, insbesondere wie rassistisch und menschenver-
achtend die Kampagne gegen die Flüchtlinge speziell in München ist, wird deutlich, wenn man sich nur einige Umstände vergegenwärtigt, unter denen Flüchtlinge in unserer Stadt leben.

So mietet die Stadt bei privaten Besitzern „geeignete Objekte“ zur Unterbringung von Asylbewer-
bern an. Die Unterbringung einer fünfköpfigen Familie auf 15 qm ist hierbei noch verhältnismäßig luxuriös. Nun wird eine Unterkunftsgebühr von bis zu 27 DM pro Person und Tag erhoben. Wer Arbeit hat, muss entsprechend seinem Einkommen bezahlen. Wer keine hat, bekommt zur Bestrei-
tung seiner willkürlichen festgesetzten Unterbringungskosten Sozialhilfe als Darlehen, häuft also Schulden an ohne Aussicht, sie jemals abbezahlen zu können.

Im Rahmen des inszenierten administrativen Chaos der letzten Monate wurde auch die Kontrolle der in den städtischen Unterkünften wohnenden Menschen verstärkt. Wer beispielsweise 3 Tage den ihm zugewiesen Unterkunftsplatz fernbleibt, verliert den Anspruch auf Unterbringung. Die Frage, wie er dann, wie es die Verordnungen vorschreiben, für die Behörden jederzeit erreichbar sein soll, bleibt unbeantwortet.

Weiter wird die Sozialhilfe für Flüchtlinge nun noch täglich ausbezahlt, angeblich um Missbrauch a la Flavour Icecube zu verhindern. Dies führt zu langen Schlangen von Wartenden bis auf die Straße hinaus an von den Sozialämtern speziell und separat für Asylbewerber eingerichteten Schaltern unter der Aufsicht von gemietetem Wachpersonal.

Bewaffnetes Wachpersonal und entwürdigende Bedingungen erwarten die Flüchtlinge auch auf dem Kreisverwaltungsreferat und in den neu eingerichteten Containerlagern, wo das bundesweit als vorbildlich geltende Konzept des studentischen Betreuungsdienstes durch eine Bewachung von privaten Sicherheitsdiensten ersetzt wurde. (Nicht auszudenken, was in Deutschland wieder alles möglich sein könnte, wenn diese Wachleute innerhalb der Lager Polizeibefugnis hätten, wie es die neuen Asylgesetze vorsehen!)

Wenn man sich also vor Augen führt, wie Wachdienste, Hausbesitzer, Kommune und nicht zuletzt die Hersteller und Vermieter von Wohncontainern sich auf Kosten der Flüchtlinge eine goldene Nase verdienen, ist die Frage, wer hier wem etwas wegnimmt, nicht schwer zu beantworten.

2. Die Katastrophe im Container

Im Rahmen eines juristischen Hickhacks, das die Bürokraten der Stadt München gegen ihre Kolle-
gen im Freistaat auf dem Rücken der Flüchtlinge führten, wurde kürzlich der „Stab für außerge-
wöhnliche Ereignisse“ (SAE) etabliert, ein Koordinationsgremium, das normalerweise bei Natur-
katastrophen zusammentritt. Dieser SAE hat offensichtlich die Funktion, der Münchner Bevölke-
rung den Eindruck zu vermitteln, die Flüchtlinge seien eine Katastrophe wie Erdbeben oder Über-
schwemmung. Überall in der Stadt wurden Räume zur Verwahrung von Asylbewerbern beschlag-
nahmt und Containerlager errichtet, wo sich in einem Wohncontainer 4 Personen 12 qm teilen müssen.

Die Wahl der Standorte der Containerlager sowie die Auswahl der Bewohnerschaft sind geeignet, Ängste der Bevölkerung vor den Flüchtlingen zu wecken und Aggressionen zu verstärken. So wer-
den die Container vorzugsweise mit jungen Männern dunkler Hautfarbe im Alter zwischen 20 und 30 belegt. Containerlager werden beispielsweise in der Hansastraße auf dem Feierwerksgelände, auf dem Theaterfestivalgelände und nicht zuletzt auf der Theresienwiese errichtet. „Die Ausländer-
feindlichkeit wird sich dadurch natürlich verstärken“, war der zynische Kommentar von KV-Refe-
rent Uhl.

Die Repressionen, die Razzien, die menschenunwürdige Behandlung durch die Behörden steigern nicht nur die Angst und Verunsicherung der Flüchtlinge in den Lagern, sondern verstärken und bestätigen auch die geweckten rassistischen Einstellungen in der einheimischen Bevölkerung. Gleichzeitig wächst die Wut und die Verzweiflung der Flüchtlinge, ihr Gefühl des hilflosen Ausge-
liefertseins.

Dass diese Angst berechtigt ist, wurde den Flüchtlingen im Herbst letzten Jahres eindrucksvoll de-
monstriert, als überall im neuen Deutschland die Flüchtlingsheime brannten und große Teile der Bevölkerung den faschistischen Terror offen bejubelte, während die Polizei die Nazibanden in der Regel gewähren ließ oder nur halbherzig eingriff.

In die zur Schau getragene Abscheu und Betroffenheit der offiziellen Politik über die Pogrome mischte sich immer unverblümter Verständnis für die Täter und nicht für die Opfer, die aufgrund ihrer vermeintlich zu großen Anzahl für die an ihnen begangenen Verbrechen indirekt selbst ver-
antwortlich gemacht wurden. Während damals der neue deutsche Staat sich der rassistischen Ver-
brecher und ihrer wachsenden Anhängerschaft innerhalb der Bevölkerung bediente, um auf eine rasche und endgültige Lösung der „Asylantenfrage“ zu drängen, sind es heute die Behörden selbst, die eine offen rassistische Politik mit den Flüchtlingen betreiben. Deutsche, Migranten und Flüchtlinge werden bewusst aufeinandergehetzt und gegeneinander ausgespielt. Ein „Asylanten-
problem“ wird künstlich in die Welt gesetzt; dazugehörende „außergewöhnliche Ereignisse“ wer-
den generalstabsmäßig geplant und durchgeführt. Die Asylpolitik in München ist dafür nur ein Beispiel.


Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 1 vom Mai 1992, 3 f.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Flüchtlinge

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