Materialien 1992
Wir sind nicht anders als die andern
von Michael Haarkötter
Wer von München aus nach Norden fährt, vielleicht gen Denkendorf, vielleicht nach Pfaffenhofen, der kann sich auf der Durchfahrt in Dachau an unselige Zeiten erinnern: In der Kreisstadt gibt es die KZ-Gedenkstätte – und es gibt die Gemeinde Indersdorf. Dort lebe, schrieb Ludwig Thoma anno 1919, »ein tüchtiges Volk, das sich Rasse und Eigenart fast unberührt erhalten hat … Arbeit gibt ihrem Leben ausschließlich Inhalt, weiht ihre Gebräuche und Sitten, bestimmt einzig ihre An-
schauungen über Menschen und Dinge.«
Hier, im Ortsteil Ried, einem 80-Seelen-Weiler mit Landwirtschaft und ohne Kanalisation, haben die Einwohner die Reihen fest geschlossen. Denn auf Grundstück Flur-Nummer 641, von Ried fünfhundert Meter entfernt, sollen nach Plänen des Indersdorfer Gemeinderats 150 Asylbewerber in Baracken untergebracht werden. Die drei Rieder Frauen, die bei Moosrainers um den Eßzim-
mertisch sitzen, kommen gerade von einer Beerdigung. Die Trauer ist ihnen nicht anzusehen, wohl aber die Wut. »Ganz Indersdorf hot achttausend Einwohner. Warum soll’n wir Rieder die gonze Last trag’n?« empört sich Frau Crimmer.
Fünf Tage nach dem Cemeinderatsbeschluss, von dem die Rieder erst aus den »Dachauer Nach-
richten« erfuhren, überreichte eine Delegation des Dörfchens dem Bürgermeister Josef Kaspar einen Brief, in dem ihre Argumente gegen eine Asylbewerberunterkunft in der Nähe gerade ihres Dörfchens zusammengefaßt sind unter soziologischen, psychologischen und hygienischen Aspek-
ten. So wird unter anderem auf ein nahes »zecken- und fuchsbandwurmverseuchtes Auenwäld-
chen« hingewiesen und darauf, dass sich aus den »divergierenden hygienischen Vorstellungen bei den Asylanten« eine »starke Gefährdung der Bevölkerung« ergebe. Die anspruchsvolle Diktion des Elaborats ist der tätigen Beihilfe von Lamprechts Thomas geschuldet, dem Meßner der Indersdor-
fer Klosterkirche, der ein Theologiestudium absolviert hat. Moosrainers Rita bringt es volkstümli-
cher auf den Punkt: »Wenn die ihre Häufla überall hinmachen, kann ja auch was übertrag’n wer-
den.«
Moosrainers haben seit Bekanntwerden der Pläne alle Zeitungsschnipsel gesammelt, die von den »Untaten der Asylanten« handeln. Da sei »ganz schön was z’sammkommen«. Was die Rieder in ihrem Kampf zusätzlich bestärkt. »Unsere Männer san untertags fort. Entweder machen’s nur Ne-
benerwerbslandwirtschaft und arbeiten in der Fabrik, oder sie san mit dem Maschinenring unter-
wegs. Und wenn da 150 ausländische Männer z’sammkommen, die den ganzen Tag nix zu tun ha-
ben, Gott weiß, auf was für Gedanken die kumma«, befürchtet Frau Deichl. Durch das Fehlen »jeg-
licher sozialer Kontrolle«, heißt es denn auch in dem Protestbrief, könne »spontanes kriminelles Handeln sehr schnell zur Gewohnheit werden«. Und die drei Rieder Frauen zitieren mit wonnigem Grausen, was die »Dachauer Nachrichten« kürzlich titelten: »Beim Volksfest stehlen Asylanten wie die Raben.«
Nein, ausländerfeindlich seien sie nicht, auch wenn jetzt soviel Schlimmes über sie geschrieben würde. Oder, so wäre hinzuzufügen, auch nicht ausländerfeindlicher als alle anderen. Ein Gemein-
deratsmitglied hatte ein eigenes Grundstück im Ortsteil Glonn für die Unterkunft angeboten. Frau Crimmer lakonisch: »Der wird jetzt von den Glonnern fertiggemacht.«
Der Gemeinderat von Indersdorf hat seinen Beschluss jedenfalls aufgeschoben und befindet sich jetzt, so Bürgermeister Kaspar, »im Prozess der Meinungsbildung«. Für den Amtsträger sind die »Hauptübeltäter der Bundeskanzler und der Bundestag«. Denen hat er drum auch einen offenen Brief geschrieben, in dem er im »Wahljahr 1994 furchtbare Veränderungen« prophezeit, sollte nicht der Asylartikel des Grundgesetzes geändert werden.
Des Bürgermeisters Wunsch, »diese Sache« im Konsens zu lösen, trägt auch SPD-Ratsmitglied Hans Phillipp Rechnung, der in Leserbriefen seine Genossen in Bonn als »traumtänzelnde Par-
teihumanisten« beschimpft, die eigentlich die Schuld trügen für das »Abdriften des Staates in die Rechtsradikalität«.
Nein, ausländerfeindlich sei man nicht in Ried, man hätte nur was gegen die »Scheinasylanten«, die ungerechtfertigterweise nach Deutschland kämen. Die »fünf Prozent echten politischen Asy-
lanten«, die es ihrer Meinung nach gibt, brächte man doch ganz gut unter. Und wenn der Platz nicht reiche, so ein deutscher Staatsbürger aus Ried bei einer Bürgerversammlung laut Bericht der »Süddeutschen Zeitung« sei doch das »KZ« in Dachau »ein großes, leeres Gelände«, und warum man die Container für die Asylanten denn nicht dort aufstellen könne.
Nein, Ried sei nicht ausländerfeindlich, aber wenn erst die Baracken auf Grundstück Flur-Nummer 641 stünden, dann kämen womöglich auch noch die echten Ausländerfeinde, die Skinheads, aus dem Moloch, aus München. »Die Skinheads san b’stimmt ka Leut’, die was fürs deutsche Volk tun. Auf diese Deutschen können wir verzichten. Da können wir uns nur in die Häuser verkriech’n und beten.« Und trocken fügt Frau Crimmer hinzu: »Die Baracken brennen auch noch gut. In dieser Hinsicht wär’n Container besser.«
Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft 40 vom 29. September 1992, Berlin, 1224 f.