Materialien 1993

Lustig ist das Zigeunerleben ...

Am 2. August enthüllen Lili Schlumberger, Vorsitzende des bayrischen Flüchtlingsrats, Rechts-
anwältin Angelika Lex, Stadträtin der GRÜNEN und eine Vertreterin der Münchner Frauen-
koordination eine Plakatwand in der Müllerstraße. Hier der Redebeitrag der Münchner Frauen-
koordination.

„Sollten wir einmal kein Federbett haben,
werden wir uns ein Loch ausgraben,
tuen Moos und Reisig rein,
das soll uns ein Federbett sein.“

Die vielbesungene „Zigeunerromantik“ steht in unserer Vorstellungswelt für die Freiheit des fah-
renden Volkes. Die eigene Sehnsucht, die auf die Roma projiziert wird, leugnet die Geschichte einer aufgezwungenen Lebensweise und blendet die aktuelle Situation der Roma in Europa aus. Diese vermeintliche Freiheit zwingt hierzulande zur Flucht vor drohender Abschiebung von Bun-
desland zu Bundesland und schließt das Recht zu bleiben aus. Das ist die Realität des „lustigen Zigeunerlebens“! Was dies bedeutet, konnten alle erfahren, die die jüngsten Ereignisse in Dachau verfolgt haben.

Obwohl der bayrische Innenminister sich nach eigener Aussage noch nicht intellektuell mit dem schwierigen Problem der Roma beschäftigt hat, drückte er dennoch ohne Zögern seine Freude
und Erleichterung darüber aus, die Aktion „Zuflucht der Roma in Dachau“ beendet zu haben. Die Vertreter der katholischen und evangelischen Landeskirche teilen die Freude über den Abzug der Roma aus der KZ-Gedenkstätte, der nur durch massiven polizeilichen Druck erwirkt werden konnte. Dazu haben sie auch guten Grund: Nichts fürchteten die Vertreter von Kirche und Staat mehr, als den politischen Preis einer spektakulären Räumung der Gedenkstätte Dachau, die in allen Details vorbereitet war.

Für die Roma ist ihre Verfolgung in ganz Europa ein existentielles Problem. Für Kirche und Staat hingegen besteht das Problem darin, dass die Roma organisiert und artikuliert auftreten, kollektiv Widerstand leisten und konkrete politische Forderungen an die Bundesrepublik Deutschland stellen. Die Roma widersetzen sich den üblichen Spaltungs- und Vereinzelungsversuchen. Sie wehren sich gegen Kriminalisierung, weisen Verleumdungen zurück und kämpfen gemeinsam gegen ihre Abschiebung. Deshalb zeigt sich jede Landesregierung erfreut und erleichtert, diese äußerst unbequeme Gruppe – wenn nicht in Abschiebehaft, dann zumindest in einem anderen Bundesland zu wissen. Auch für die Kirchenleitung war das Motto des Kirchentages – „Nehmet einander an“ – schnell vergessen und wandelte sich in die zentrale Losung: „Schmeißet die Roma raus!“

Der Kampf der Roma geht weiter, auch nach dem Verlassen der KZ-Gedenkstätte in Dachau. Wir fordern alle auf, den Kampf der Roma für ihr Bleiberecht zu unterstützen! Das setzt eine gründli-
che Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte voraus. Es gilt, überkommene Denkmuster, Klischees und Wahrnehmungsstrukturen zu hinterfragen. Teil einer solchen Auseinandersetzung ist auch die Enthüllung der Tatsachen, d.h. die Verantwortlichen beim Namen zu nennen und öffentlich zu kritisieren.


Stadtratte 17 vom Oktober/November 1993, 16.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Flüchtlinge

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