Materialien 1993
„Da töte ich mich lieber selbst“
Roma-„Fluchtburg“ in KZ-Gedenkstätte Dachau / Etwa 80 Roma fordern Bleiberecht für ihre Landsleute in Deutschland / Unterstützung durch die Kirche / Hoffen auf den Kirchentag
Fremde Klänge füllen die Versöhnungskirche auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationsla-
gers in Dachau. Roma-Lieder werden gesungen, rumänische und makedonische Volkstänze aufge-
führt. Kinder spielen auf dem Rasengelände, ein großes Zelt steht neben dem Gottesdienstraum, Duschcontainer hinter der Kirche. Seit zehn Tagen haben über 80 Roma in den engen Räumen der Kirche Zuflucht gefunden. „Damals vergast – heute abgeschoben“ kündet weithin sichtbar das Transparent am Dach der Kirche von den Anliegen der Roma-Familien. „Wir wollen nur in Frieden leben, unsere Kinder sollen auch eine Zukunft haben“, fasst Jasar Demirov, Präsident der süddeut-
schen Roma-Union die Forderungen der „Kirchenbesetzer“ zusammen.
Die Aktion in Dachau entwickelte sich spontan im Anschluss n eine Pressekonferenz, die die 51jäh-
rige Schriftstellerin Anita Geigges in der Versöhnungskirche am 16. Mai abgehalten hatte. Die Kul-
turpreisträgerin der Romani Union befand sich in einem Hungerstreik für die Belange der Roma. Etwa 40 Roma aus Süddeutschland reisten an und nutzten die Gelegenheit, um sich mit ihren Landsleuten in Neuengamme zu solidarisieren. Denen verwehrt bis heute ein massives Polizeiauf-
gebot den Zutritt zum ehemaligen KZ-Gelände. Zudem starteten sie mit Einwilligung der Mitarbei-
ter der Versöhnungskirche ihre Aktion „Roma-Fluchtburg in Dachau“. „Im Gegensatz zu Neuen-
gamme haben wir unsere Aktion nicht vorher angekündigt, und das war gut so“, ist Jasar Demirov überzeugt.
Demirov kam vor 27 Jahren als jugoslawischer Gastarbeiter nach Deutschland. Er hat eine Aufent-
haltsgenehmigung für Deutschland – im Gegensatz zu seinen Landsleuten. Etwa die Hälfte der 80 Dachauer Roma, die aus Makedonien, Bosnien, Rumänien und dem Kosovo stammen, ist direkt von Abschiebung bedroht. 20 halten sich vor der Polizei versteckt, ihre Asylanträge wurden trotz der Verfolgung in ihren Herkunftsländern als „offensichtlich unbegründet" abgelehnt. Oft ist die Abschiebung bereits verfügt.
Die 14jährige Naslije K. lebt mit ihren Eltern schon seit vier Monaten im Untergrund. Vor zwei Jahren kam die Familie als Asylbewerber nach Deutschland. Damals war ihre ältere Schwester Haneme noch mit dabei. Im November letzten Jahres wurde Haneme dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Skopje in Makedonien abgeschoben. Dort wurde die 18jährige von der Polizei abgeholt, geschlagen und vergewaltigt. „Als wir im Januar 1993 vom Rechtsanwalt erfuhren, dass unser Asylverfahren zu Ende ist, sind wir sofort geflüchtet“, erzählt Naslije. Die Familie zog von einem Ort zum anderen. Nach Makedonien wollen sie auf keinen Fall mehr zurück, zumal der Va-
ter seit der Flucht als Deserteur gilt. Auch Naslije will nicht mehr zurück. „Die werden mich genau-
so kaputtmachen wie meine Schwester, da töte ich mich lieber selbst.“ Die 23jährige Behara. Die in Bosnien mehrfach von serbischen Soldaten vergewaltigt worden ist, der 29jährige Nazmir, der in Makedonien zwangsrekrutiert wurde und schließlich desertiert ist, die 16jährige Meflida, die mit ihren Eltern aus Makedonien geflohen ist, oder der 52jährige Rosalim, dessen Dorf nach dem Sturz des rumänischen Diktators Ceausescu abgebrannt wurde – die Angst, in die Heimat abgeschoben zu werden, spiegelt sich in all ihren Gesichtern wider.
„Total positiv“ fand Demirov das Entgegenkommen des evangelischen Pfarrers Heinrich Bauer. „Wir haben die Not gehört und verstehen, dass sie Hilfe brauchen“, begründet er, warum er den Roma Zuflucht gewährt hat. Die Küche und das enge Büro der Kirche waren ständig belagert, die tägliche Arbeit musste liegenbleiben. Doch mittlerweile hat man sich arrangiert. Pfarrer Bauer arbeitet mit an der Organisation des Kirchentages. Die Eröffnungsveranstaltung mit Bundestags-
präsidentin Süßmuth am 9. Juni soll auf dem KZ-Gelände direkt neben der Kirche stattfinden.
„Das ist unsere große Chance“, ist sich Verena Hollis vom Dachauer Arbeitskreis Asyl, der die Ro-
ma unterstützt, sicher. „Wir müssen es am Kirchentag schaffen, die Anliegen der Roma in Deutsch-
land vorzubringen“, betont die 45jährige Lehrerin. Pfarrer Bauer will erreichen, dass sich die „deutschen Großkirchen zum moralischen Anwalt der Sinti und Roma machen und deren Anliegen offiziell unterstützen“. Zu den Anliegen gehört nicht nur ein gesichertes Bleiberecht für die derzeit in Deutschland lebenden Roma. Die Bundesregierung soll darüber hinaus die Finanzierung der für Roma errichteten sogenannten townships in den Ghettos osteuropäischer Staaten sofort einstellen und die UN-Resolution zum „Schutz der Roma“ nachträglich unterzeichnen.
Noch interessiert sich das bayrische Innenministerium offiziell nicht für die illegal in Dachau le-
benden Roma. Die Kirchenleitung will dafür sorgen, dass dies auch so bleibt. „Die Roma sollen hier sicher sein“, betont der Münchner Dekan Helmut Ruhwandl, in dessen Zuständigkeit die Dachauer Versöhnungskirche liegt. „Wir treten nicht an die Behörden heran, aber die Besetzung könne „kein Dauerzustand sein“, fügt er hinzu. „Wir bleiben hier, solange bis wir ein Bleiberecht haben“, will Demirov von einem Ende der Aktion nichts wissen. Gestern errichteten die Roma auf dem KZ-Ge-
lände eine Gedenktafel für die Roma-Opfer in Dachau. Schon im Juli 1936 wurden etwa 400 Roma als „asoziale Elemente“ ins Dachauer KZ transportiert. Eine Mahnwache soll verhindern, dass die-
se Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Die Inschrift auf der Tafel ist Programm: „Die Seelen der von den Nationalsozialisten in Dachau ermordeten Roma werden erst dann Ruhe finden, wenn ihre Nachkommen hier in Deutschland ihr Lebensrecht finden.“
Bernd Siegler
die tageszeitung 4017 vom 26. Mai 1993, 5.