Materialien 1993

Axel und Lutz

von Georg Podt und Dagmar Schmidt

Wider die Glattheit der Kultur.
So das Thema.
Die Münchner Kultur ist glatt.
Sagt man. Hört man.
Jeder zugereiste Besserverdienende gibt
gerne als erstes dieses Statement von sich,
um unter Beweis zu stellen,
dass er sich auskennt.
Meist ist ebendenselben nicht klar, dass sie
genau den größten Beitrag zu
dieser Glätte leisten.

Was heißt glatt?
München an sich ist glatt. Sagt man.
Und eine glatte Stadt hat eine glatte Kultur.
Logo. Punkt. Ende.

Wem’s nicht gefällt, der kann ja gehen.
Mir san mir.
Nachzulesen von Feuchtwanger
bis Achternbusch.

Was ist glatt?
Glas zum Beispiel oder Eis.
Kratzer im Eis. Spuren hinterlassen.
Das ist interessant.

Wie der Schlittschuhläufer.
Das Gewicht des Läufers verursacht
mittels Kufen Druck auf dem Eis.
Das Eis schmilzt.
Dadurch kann der Läufer über das Eis
gleiten.

Pirouetten drehen.
Den dreifachen Rittberger.
Den Toe Loop einwärts oder auswärts.
Wer’s kann, sogar eine Todesspirale.
Allein oder mit Partner

Und auf dem Eis bleiben Kringel, Kurven,
Kratzer, Splitter.
Spuren-Hinterlassenschaft.
Je weicher das Eis, um so schwieriger.
Der Widerstand ist weniger groß.
Der Absprung zum Salto misslingt.
Landung auf dem Hintern.
Unelegant. Die Kür versaut. Tränen.

Uns ließ man zunächst gar nicht aufs Eis.
Bei der Bewerbung um die Nachfolge
von Jürgen Flügge erreichten wir die
Qualifikation nicht.
Ein ausländischer Künstler,
der die bayerische Verwaltungsordnung
nicht kennt!
Die städtischen Funktionäre waren
misstrauisch.

Statt dessen durfte die bis dahin gänzlich
unbekannte Barbara Fischer die
Landesfarben tragen.
Das aufsehenerregende Trikot, im
Windkanal designed, konnte nicht über
die bleischweren Beine hinwegtäuschen.
Kein einziger dreifacher Sprung.
Hausmannskost – wo München die Stadt
der Witzigmänner und Käfers ist.
Mehrere Stürze.
Abbruch der Kür.
Keine Punkte. Nur Blamage.

Barbara Fischer schmeißt das Handtuch.
Der Kulturreferent atmet auf.
Keine Kratzer auf dem Eis.
Nur Plumpser.

Eine unkonventionelle Lösung ist gefragt.
Die Kammerspiele helfen.
Ein Anruf in Amsterdam.
Ein Flug. Ein kurzes Gespräch.
Eine entschlossene Entscheidung
von allen.

Am 14. Februar 1990 stimmt
der Kulturausschuss zu.
Am 15. Februar 1990 beginnt
unser Arbeitsvertrag.
Glatt oder nicht glatt?
Wir testen das Eis.

Schon beim Einlaufen Pech.
Vor der ersten Premiere: Asbest-Funde.
Die sofortige Schließung des Theaters
droht.
Mehrere Referate springen über ihren eigenen Schatten.
Das Theater der Jugend darf bis zum Ende
der Saison spielen.

Der neugewählte rot-grüne Stadtrat
braucht Mut.
Zum dreifachen Axel einer Total-Sanierung
des Theaters der Jugend.
Anlauf. Absprung mit Grün.
Glatte Landung auf Rot.
Fehlerfrei.

Die Landeshauptstadt München
schafft damit das bestausgestattete,
an den Bedürfnissen
des Publikums orientierte
Kinder- und Jugendtheater in ganz
Europa und setzt damit international
Maßstäbe.

Subalterne Mitarbeiter,
Trägheiten,
Einmischungen des Kämmerers
sollen hier verschwiegen werden.
Sie alle haben
die Meisterschafts-Norm nicht geschafft
und somit die Chance, Spuren zu
hinterlassen, vertan.

Der Oberbürgermeister.
Der Oberbürgermeister muss sparen.
So versteht er seinen Auftrag.
Der Oberbürgermeister ist Sozialdemokrat.
Die sozialen Belange der Bevölkerung
liegen ihm am Herzen.
Die kulturellen nicht.
Und Kultur für Kinder?!?!
Das ist was für bessere Leute in besseren
Zeiten.
Meint er.

Das Grundstück des Theaters kann
verkauft werden.
Beste Lage Schwabing.
Und die 8 Millionen Mark, die schon
vergeben sind?
Da kann man doch glatt drüber
hinwegsehen, wenn man 20 Millionen
erspekulieren kann.

Schörghuber hat’s vorgemacht.
Der Kämmerer ist zufrieden.
Die Presse nicht.
In einer konzertierten Aktion
wird Öffentlichkeit hergestellt.
Gibt es so etwas noch in dieser glatten
Stadt?

Und wie!
Kollegen, Institutionen, Bürger schrecken
auf.
Fast keine Lehrer.
Aber Leute, die, selbst wenn sie noch nie
in unserem Theater waren, finden,
dass es Barbarei sei, Kultur
in Zusammenhang mit Grundstückspreisen
zu setzen.

Ein postalischer Wasa-Lauf der Münchner
Bevölkerung zum Rathaus.
Erfolg.
Wir sind das Volk,
das nicht nur Bier und Weißwurst will.

Das ist doch glatt noch mal gutgegangen.
Mit Hilfe von vielen!
Sommer 1993 wird die Neue Schauburg
am Elisabethplatz wiedereröffnet.

Spuren hinterlassen.
Auf dem Eis.
Und beim Publikum.
Inzwischen laufen wir.

Pflicht und Kür. Für wen?
Es gibt zwei Sorten Publikum.
Zuschauer und Punktrichter.

Die eigene Bewertung der Arbeit
ist wichtig.
Für Selbstkritik und Weiterentwicklung.
Und für die Spuren.
Aber Spuren müssen gesehen werden.
Irritieren können.

Die Punktrichter sind Herr der Treppchen.
Gold, Silber, Bronze.
Ihre Bewertung ist kalkulierbar.

Man erfüllt ihre Erwartungen.
Voller Saal. Lorbeerkranz.
Und doch keine Spuren!
Statt dessen Gefälligkeiten.
Artigkeiten. Glattheiten.
Alle Elemente brav ausgeführt.
Mehr nicht.

Wie ist man nicht-artig zu seinem
Publikum, ohne es zu verprellen?
Wie vermittelt man Vergnügen
an Irritationen?
Wer will mitgenommen werden bei einer
künstlerischen Entdeckungsreise?
Statt Bekanntes wiederzukäuen.

Wir wissen, was man von uns erwartet.
Wir müssen Theater machen, das Kinder
und Jugendliche verstehen.
Viele Erwachsene wissen, was Kinder und
Jugendliche verstehen.
Lehrer wissen das fast immer.
Kritiker sehr oft.
Wir wollen es nicht wissen.
Wir wollen es mit jeder Vorstellung
herausfinden.
Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Spuren im Eis.
Gemeinsam mit den Zuschauern
Spuren hinterlassen.
Spaß entwickeln beim Zerkratzen
der Glattheiten.


Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 142 ff.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Jugend

Referenzen