Materialien 1993
Vorsicht Kamera!
Ein herber Schlag: Hinter dem linken Dokumentations- und Archivprojekt „gruppe 2“, das mehr als 20 Jahre lang in der Linken gefilmt hat, steckt in Wirklichkeit der Geheimdienst.
Mancher scheint einfach dazuzugehören. Weil er schon so lange dabei ist und ja auch immer irgendwas Linkes gemacht hat. So war es auch bei Manfred Schlickenrieder, dem Vertreter der alteingesessenen Münchner „gruppe 2“. Bis – nach offenbar mehr als zwanzigjährigem Bestehen des angeblichen linken Dokumentationsprojekts – die Schweizer Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ Verdacht schöpfte. Sie bildete flugs eine eigene Recherchegruppe und brachte so gleich eine ganze Reihe von Beweisen für den Spitzelvorwurf ans Tageslicht: Gesprächsprotokolle, Namenslisten, Geheimdienstdossiers, Spesenrechnungen und anderes.
Allem Anschein nach bestand die „gruppe 2“ – zumindest in den letzten Jahren – nur aus einer einzigen Person: Manfred Schlickenrieder. Er schrieb unter dem Decknamen „Camus“ seit wahrscheinlich 20 Jahren Berichte und politische Einschätzungen, legte Namenslisten und Fotokarteien an. Allein das Material, das der Schweizer „Revolutionäre Aufbau“ zusammengetragen hat, umfasst Listen und Dokumente, in denen Hunderte Linke mit Anmerkungen zu ihren Verbindungen und Aktivitäten festgehalten sind, teilweise mit Fotomaterial. Daneben fanden sich aber auch eindeutig behördliche Dokumente. Aus Italien beispielsweise Lageberichte des Geheimdienstes SISDE, aus Deutschland Listen der Post- und Besuchsüberwachung bei RAF-Gefangenen und eine Zusammenfassung des Verfassungsschutzes über Telefon- und Kontaktobservation gegen vermeintliche Mitglieder der französischen „Action Directe“. Für die Schweizer Recherchegruppe ließ das alles nur einen Schluss zu: Sie war auf ein Geheimdienstnetzwerk gestoßen, bei dem die „gruppe 2“ nicht nur Zulieferer für eine staatliche Institution war, sondern selbst Zugang zu Berichten und Auswertungen staatlicher Dienste hatte.
Biografie eines Geheimdienstprojektes
Der Anfang der 80er Jahre war eine politisch turbulente Zeit: Eine große Zahl von Gruppen debattierte, veröffentlichte Texte, machte Aktionen. Es entstanden autonome Infoläden, Medienwerkstätten und Agitprop-Strukturen, die archivierten, filmten, übersetzten und verlegten. Ein solches Projekt war auch die „gruppe 2“. Damals bezeichnete sie sich als „Archiv für die linke Bewegung“. Sie stellte Kassetten mit Liedern der italienischen Arbeiterbewegung her und vertrieb politische Filme und Bücher aus Italien. Später gab sie die Zeitschrift „texte“ heraus, die zum Beispiel Dokumente aus der nordamerikanischen Gefangenenbewegung oder aus der Diskussion der italienischen Roten Brigaden übersetzte und veröffentlichte. Zugleich trat die „gruppe 2“ – wie gesagt – als Dokumentationsstelle auf, die ein kleines Archiv betrieb, das (gegen Hinterlegung der Personalien) von Einzelpersonen genutzt werden konnte und wo Videogeräte ausgeliehen werden konnten.
Und sie filmte. Mit einer angeblichen Gruppe im Hintergrund, die selbst revolutionäre Texte verlegt und veröffentlicht und eine linke Medienwerkstatt betreibt, öffneten sich Manfred Schlickenrieder Tür und Tor.
An dieser Stelle eine kurze Erklärung zum Verhältnis von Spitzel Manfred Schlickenrieder und der angeblichen Gruppe mit Namen „gruppe 2“: Tatsächlich, wie eingangs schon gesagt, bestand die „gruppe 2“ offenbar nur aus Manfred Schlickenrieder selbst, zumindest in den letzten Jahren. Auf den Namen und die dahinterstehende Struktur angesprochen, erklärte er, die Struktur habe sich vor Jahren gegründet und vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes 77 beschlossen, teilweise verdeckt zu arbeiten. Konkret sei beschlossen worden, nur eine Person, nämlich ihn, offen auftreten zu lassen. Der Rest halte sich im Hintergrund, diskutiere politisch und verpflichte sich zur finanziellen Unterstützung des Projekts. Des weiteren würde die Struktur über den Film- und Geräteverleih finanziert.
Agent in revolutionärer Mission
Wie gesagt, öffnete die Konzeption einer linken Dokumentationsstelle Schlickenrieder so manche Tür. So reiste er mehrmals nach Italien, um ehemalige Gefangene für einen angeblichen Dokumentarfilm über die Roten Brigaden zu interviewen. Er war auf unzähligen Veranstaltungen präsent und filmte.
Die Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ fand in den Schlickenrieder-Unterlagen, die ihr vorliegen, auch Teile eines Dossiers über ihre eigenen Mitglieder. Beigelegt waren Fotos, die erkennbar von einem Videofilm gezogen waren. Insgesamt entfaltete Schlickenrieder unter dem Deckmantel der „gruppe 2“ eine ganze Menge Aktivitäten, in denen ihm die Rolle des Dokumentaristen, teils auch des Moderators zukam, nie oder äußerst selten aber die einer Person mit eigenen politischen Ideen und Überzeugungen. Einmal beispielsweise initiierte er mit langjährigen Aktivisten einen Gesprächskreis zum Thema „Wie wurde ich rot?“ – ähnlich wie es auch der Verfassungsschutzspitzel Egon Giordano in Hamburg gemacht hat.
In den neunziger Jahren half die „gruppe 2“ einen Kongress organisieren, der unter dem Titel „Bewaffneter Kampf und Triple Oppression“ stattfand und selbstredend von der „gruppe 2“ auf Video dokumentiert wurde. Mit ehemaligen Gefangenen aus der RAF produzierte Schlickenrieder dann den – in der antiimperialistischen Linken durchaus populär gewordenen – Film „Was aber wären wir für Menschen …“. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass für dieses Werk nicht nur die Ex-Gefangenen gefilmt wurden, sondern auch zahlreiche Treffen und Veranstaltungen. Dieser Film war denn auch das Empfehlungsschreiben, das Schlickenrieder ermöglichte, Mitarbeiter der Initiative Libertad zu werden. Mit der erwähnten Schweizer Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ schließlich gab Schlickenrieder alias „gruppe 2“ eine deutsche Ausgabe der italienischen Zeitschrift Rapporti Sociale heraus. Pikanterweise wurden die Übersetzungen, die Schlickenrieder besorgte, offenbar von einem deutschen Geheimdienst gemacht, der dann auch die nicht unerheblichen Druckkosten übernahm.
Was dem Staat recht ist, ist der Industrie billig
Häufig fragten sich Leute, woher die „gruppe 2“ das Geld für ihre Film- und Übersetzungsarbeit nahm. Zudem fuhr Schlickenrieder teure Sportwagen. Die aufgefundenen Spesenabrechnungen lüften jetzt das Geheimnis seiner Liquidität: Er rechnete konsequent beim Amt ab. Reisen, Autopannen, Telefonkosten und Hilfsjobs im Büro wurden ihm zu 75 Prozent rückerstattet.
Als Zuverdienst operierte die „gruppe 2“ in der Grauzone privatwirtschaftlicher Geheimdienste. Moralische Skrupel kannte sie dabei nicht. 1997 kassierte Schlickenrieder 20.000 DM bei der Firma „Hakluyt“ in London für die Bespitzelung deutscher Anti-Shell-, Greenpeace- und Menschenrechtsgruppen. Die Firma Hayklut wird von ehemaligen Agenten des britischen Geheimdienstes MI 6 betrieben. Ihr Motto: „To do for the industry what we had done for the government“ – für die Industrie das machen, was wir früher für die Regierung getan haben. Was das sein mag, lässt sich ermessen, wenn man die MI 6 und ihre Antiterroreinheit SAS kennt: Auf ihr Konto gehen unter anderem Todesschwadrone in Nordirland, die Verwissenschaftlichung der Folter in den nordirischen Polizeistuben und die Tötungen von IRA-Militanten auf offener Straße in Gibraltar.
Überhaupt scheint es eine Reihe von Überschneidungen zwischen staatlicher Auftragsarbeit und „privater“ Ermittlung zu geben. Wie die Recherchen der Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ ergaben, ist ein enger Mitarbeiter, vielleicht sogar ein „verdecktes Mitglied der gruppe 2“, der MAD-Offizier Karsten Banse. Er wurde wegen seiner Verwicklungen in die Affäre um Werner Mauss verurteilt. Werner Mauss leitete in den 70ern und 80ern eine außergesetzliche Anti-Terrorismus-Abteilung, die im Auftrag von BKA, MAD und BND handelte. Die Behörden vergaben die Aufträge, sicherten Werner Maussens zur Festung ausgebaute Villa mit eigener Start- und Landebahn, während er die Arbeiten erledigte, bei denen sich die Beamten nicht die Finger schmutzig machen wollten. Finanziert wurde das Ganze von der Industrie.
Lockspitzel und Agent Provocateur
Auch wenn sich Manfred Schlickenrieder alias „camus“ auf die Auswertung ideologischer Positionen und die Abschöpfung von Gesprächen konzentrierte, so hatte er trotzdem zuweilen andere, klassische Methoden im geheimdienstlichen Repertoire. So filzte er laut einem „Zusammenfassenden Reisebericht, Teil 3“ aus dem Frühjahr 1994 einem Mitglied der Gruppe „Revolutionärer Aufbau“ in Rom die Aktentasche.
In einem anderen Fall arbeitete Manfred Schlickenrieder als Agent Provocateur und Lockspitzel. In einem so genannten Kontaktbericht vom 30. April 1994 bietet er einem linken Aktivisten fünf bis sieben Faustfeuerwaffen gegen Geld an. Dazu diese Notiz:
„Im übrigen wurde dieser ‚Waffenköder’ von mir so ausgelegt, dass ein ‚Rückzug’ jederzeit auch ohne Gesichtsverlust und Verdachterweckung möglich ist“.
Die Waffen sollten an einen Flügel der Organisation Devrimci Sol aus der Türkei gehen, die sich zu dem Zeitpunkt in einem extrem gewaltsam ausgetragenen Fraktionskampf befand, bei dem es eine Reihe von Toten gab. In der in diesem Zeitraum erscheinenden Ausgabe der „texte“ wird erstmalig ein Text von Devrimci Sol abgedruckt. So geht dann Schlickenrieders „Politik“ mit dem Dienstgeschäft Hand in Hand.
Geschickt und geheimdienstlich wertvoll auch das Angebot an lokale Münchener Gruppen, bei der „gruppe 2“ Postadressen einrichten zu können. Das sparte Mühe, Schlickenrieder bekam so z.B. die Post einer Antifagruppe immer direkt auf den Tisch. Das brachte zwar auch mal den polizeilichen Staatsschutz ins Haus, nachdem besagte Antifa Fahndungsplakaten nachempfundene Steckbriefe von Zivilbullen veröffentlichte, diente aber gleichzeitig als Beweis für die „Bedrohung durch polizeiliche Repression“.
Die Moral von der Geschicht
Ein Spitzel, der 20 Jahre lang mit der Kamera in der Hand durch linke Treffen geistert – das ist ein herber Schlag. Hätte sich das nicht verhindern lassen? Welche Fehler wurden gemacht? Diese Diskussion steht noch aus, und sie ist zweifellos sehr wichtig. Die Jungle World meinte, der Fall Schlickenrieder weise darauf hin, dass in den marxistisch-leninistischen und antiimperialistischen Gruppen, in denen er sich bewegt hat, die Theorie schematisch und die Praxis autoritär und bürokratisch sei. Das dürfte wohl richtig und falsch zugleich sein. Falsch daran ist die Überzeugung, dass die eigene politische Strömung gegen Infiltration immun sei – Häme und Selbstgerechtigkeit sind vollkommen fehl am Platz. Richtig ist aber, dass Spitzeln ihre Tätigkeit erheblich erschwert wird, wenn man innerhalb der politischen Gruppen sorgfältig miteinander umgeht, Wert darauf legt, die anderen und ihren Werdegang gut zu kennen und wirklich miteinander diskutiert, ohne sich mit Phrasen abspeisen zu lassen.
Coco Drilo
(aus einer Radiosendung des Salon Rouge vom Januar 2001,
für die Website leicht überarbeitet)