Materialien 1993
Das Märchen von der „erhaltenden Stadterneuerung“
Es war einmal ein Münchner Stadtviertel, Westend genannt, das war in die Jahre gekommen. An den Gebäuden hatte der Zahn der Zeit genagt und die Wohnungen in den Häusern genügten nicht mehr den Ansprüchen der Leute, die Ansprüche stellen können. Also beschloss der Rat der Stadt München, es müsse Abhilfe geschaffen werden, damit aus dem Westend wieder ein schmuckes Viertel werde. Damit nun aber auch die Leute, die dieses Viertel ihr Zuhause nannten, erhalten blieben und teilhaben könnten an den Wohltaten, die die Stadt beschlossen hatte, wurden Teile des Westends zum förmlichen Sanierungsgebiet erklärt, man beschloss eine Erhaltungssatzung und nannte das Ganze „Erhaltende Stadterneuerung“.
Da aber erschien den Bewohnerinnen und Bewohnern des Westends in einem Alptraum eine böse Hexe, die ihnen zuraunte: „Seht Ihr denn nicht, ihr Blinden, nur Euer Viertel wollen sie erhalten, nicht aber Euch, denn Ihr seid ihnen nicht schmuck genug!“ Aber die Leute lachten den Alptraum beiseite, wussten sie doch, dass sie unter Milieuschutz standen. Und so begann die Aufwertung des Westends.
Nun begab es sich, dass am Rande unseres immer schmucker werdenden Westends eine Fläche gelegen war, da gab es nichts zu erhalten, das war eine Fläche der Deutschen Bundesbahn. Da beschloss der Rat der Stadt München hier nun kräftig zu entwickeln und so betraf es auch ein Grundstück an der Donnersberger Brücke, wo es in direkter Nachbarschaft zu unserem besagten Stadtviertel lag.
Im Jahre 1986 war es, da trat nun ein Investor an die Stadt München heran und sprach, er wolle das Gelände mit 500 Arbeitsplätzen in einem sechsstöckigem Gebäude mit 10.000 qm Geschoss-
fläche entwickeln. Und die Stadt sah es mit Wohlgefallen und so ward ein Rechtsanspruch hierauf geschaffen. Die Jahre gingen ins Land, die Entwicklung nahm sich Zeit und als man das Jahr 1993 schrieb, da hatten der Rechtsanspruch und die Zeit dem Investor bereits 15.000 qm Geschossflä-
che beschert.
Der Rat der Stadt München, in seinem Wunsche, auch eine schöne Bescherung zu bereiten, sprach nun, es möge ein Wettbewerb ausgelobt werden, damit das neue Gebäude sich wohl füge in die Nachbarschaft unseres schmucken Westends. Und so kamen die Architekten von nah und fern, um teilzuhaben an der großen Ehre des Wettbewerbs, und es ward eine Kommission berufen, die die große Ehre hatte, preiszukrönen, und als sich Schall und Rauch gelegt hatten, da sahen die Leute im Westend zu ihrem Erstaunen, dass man ihr schmuckes Viertel ganz vergessen hatte.
Nun gab es ein schmuckes neues Gebäude, in der Sonne des Ruhmes auf prachtvolle 84 m Höhe angewachsen und auch die Geschossfläche war vor Stolz über den Wettbewerbsgewinn auf 18.000 qm angeschwollen. Einzig die Arbeitsplätze, die in dem neuen Gebäude ihr Zuhause finden sollten, hatten ihre alte Zahl bewahrt. 500 sollten es weiterhin bleiben. Aber war auch ihre Zahl gleichge-
blieben, wie hatte sich doch jeder einzelne von ihnen verändert: Arbeitsplatz zu sein in Münchens höchstem Gebäude, ein jeder von ihnen ausgestattet mit 36 qm – die 500 wussten, dass sie keine Allerweltsarbeitsplätze waren, sondern etwas sehr Besonderes.
Und da sahen die 500 mit Wohlgefallen, dass sich gleich neben ihrer schmucken Arbeitsstätte ein sehr schmuckes Wohnviertel befand, welches den Namen Westend trug. Wohl war dieses Viertel dereinst saniert worden mit dem Vorbehalt, die ansässige Bevölkerung durch Milieuschutz zu er-
halten. Und man hatte mit öffentlichen Geldern sehr schmucke Wohnungen geschaffen, für die es eine Sozialbindung gab. Aber es traf sich, dass gerade, als die besonderen Arbeitsplätze nach einer passenden Wohnung suchten, die schmucken Wohnungen im Westend aus der Sozialbindung fie-
len.
Da erschien den noch erhaltenen Leuten im Westend wiederum die Hexe, doch merkwürdig, dies-
mal hatte sie die Gestalt der Stadtbaurätin angenommen. Und sie sprach: „Ihr Bewohnerinnen, Ihr Bewohner des Westends, wie sehr hat es sich die Stadt gewünscht, Euch zu erhalten. Doch seht nur, wie sehr sich um Euch herum alles entwickelt. Es schmerzt uns sehr, aber wir können Euch nicht mehr helfen, nun müsst Ihr Euch selber helfen!“
So erfuhren die Leute im Westend das Märchen von der Erhaltenden Stadterneuerung am eigenen Leib -
und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch, doch wer weiß schon wo und wie …
Claudia Warnecke
AK Kommunalpolitik Westend
Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 8 vom Juli/ August 1993, 1 ff.