Materialien 1993

Besichtigung: Der Bezirksausschuss

Verordneter Leerlauf

„Mehr Demokratie wagen“ – Willy Brandts geflügeltes Wort hat mehr als eine Dekade Reformer und Reformen in Deutschland inspiriert. „SCHWABING EXTRA“ fragt: Ist dieser schöne Traum von Selbstbestimmung und Partizipation in München wirklich geworden? Eine erste Besichtigung der Demokratiereform gilt dem städtischen Bezirksausschuss 12.Mehr Bürgerbeteiligung? Mehr Rechte?

„Hat man etwa Angst vor mehr Demokratie in den einzelnen Stadtteilen?“ Das fragte Christian Ude schon 1991 die Bayerische Staatsregierung mit dem Innenminister Stoiber. Der nämlich hatte die Bayerische Gemeindeordnung geändert. Ergebnis: Die rot-grünen Beschlüsse zur Kompetenzverlagerung auf die Bezirke wurden hinfällig. Mithin gab es keine „Verlagerung von Entscheidungsrechten“, keine Mitsprache der Bürger, erst recht keine Direktwahl der Ausschussmitglieder. Sie werden immer noch von ihren Ortsverbänden delegiert. Die Demokratie in München ist auf dem Stand von 1951/52 erstarrt. Allerdings: Nicht einmal Krokodilstränen hat die rot-grüne Rathauskoalition bisher ob dieser Pleite fließen lassen (die CSU war ohnehin dagegen). Den Stadträtinnen und -räten kam Stoiber als böser Bube nämlich gerade recht, sie dürfen ihre Macht behalten. Dem Rathaus verbleibt der Alleinvertretungsanspruch für jeden Bürgersteig, jeden Taxistandplatz, jeden Baum.

Alles beim Alten – Besuch beim Bezirksausschuss Nummer 12

Der „BA 12“ ist ein Zwitterwesen aus Schwabing und Freimann; das Mitglied von der „Alten Heide“ ist Vorsitzender (SPD). Schwabing ist groß und Innenstadt, Freimann klein und Stadtrand. Freimann, das hässliche Entlein, gehört zum BA 12, weil Schwabing-Ost allein keinen Stadtbezirk bilden konnte und sonst niemand zum Müllvorort gehören wollte.

Schwerpunkte der Sitzung am 28. September 1993 im Freizeitheim an der Traupestraße sind zuallererst Mitteilungen der Stadt. Heute wird das „MIP“ vorgestellt, das Mehrjahres-Investitionsprogramm der LH München für die Jahre 1994 bis 1997. Die Haushaltsposten werden je nach Dringlichkeit in Listen eingeteilt. „Liste 1“ ist am dringlichsten. Das „MIP“ sieht unter anderem den Ausbau des Freimanner Müllberges als Erholungsgebiet vor; am Nordhang wird an die Errichtung einer Sprungschanze gedacht. Das Gremium beschloss, dafür das Bürgerhaus „Mohrvilla“ für Liste 1 vorzuschlagen. Die endgültige Reihung entscheidet der Stadtrat im November je nach Finanzlage; derzeit ist sie bekanntlich katastrophal.

Antworten auf Anträge der Bürgerversammlung werden zur Kenntnis genommen; die Anwesenden haben sie schon dreimal gehört.

Als Umweltthema fällt neben der Verlagerung einer Schrott- und Autoverwertung innerhalb Freimanns (wohin sonst?) der „Baumschutz“ auf; die Standorte der Bäume sind einzeln aufgeführt. Als besondere Delikatesse kann gelten, dass um einen einzigen Baum, eine Rotbuche, heftiger Streit zwischen BA und Stadtrat entbrannt ist. Jener befürwortet die Fällung, weil der Baum im Privatgarten steht und die Familie bauen will, dieser, der Stadtrat, sieht bei Fällung das „Ortsbild“ gefährdet. Durch eine öffentlich durchgeführte Bauleitplanung zur Bestandssicherung ist die Buche nun immerhin einigen Bürgern bekannt gemacht worden. Der verhinderte Bauherr laboriert an seinem zweiten Herzinfarkt, die Familie ist nervlich am Ende. Dem Ausschuss wird erneut bestätigt: „Höhere“ Einsichten stehen über Mitspracherechten. Vielleicht ist so zu erklären, dass diese Woche in Freimann vierzig Buchen samt großer Hecke, ein ganzer alter Park, bei Nacht und Nebel abgeholzt wurden. Verantwortliche sind nicht bekannt.

Typische „Schwabinger“ Themen …

sind wie immer: Parklizensierung, Zweckentfremdungen, Sperrzeitverkürzungen, Gaststättenfortsetzungen. Letzteres abgehandelt unter der Rubrik „Schule, Kultur, Soziales“. Merkwürdig mag außerdem anmuten, dass die Schwabinger sonst kaum Probleme zu haben scheinen. Die lärmige Disco, die autofahrenden Nachtschwärmer, die Kunstgalerie im Nachbar-Wohnhaus – alle sind störende Nachbarn. Selber will man seine Ruhe, auch und gerade in der Wohnoase Schwabing.

Ordnung und Leerlauf

Ihre Bedeutung haben die Bezirksausschüsse als Schauplatz von Stellvertreterkämpfen. Die Aspiranten auf Stadtratskandidaturen, die aufstrebende Parteijugend, auch verdiente Parteikader bilden Fraktionen wie die großen Vorbilder, halten Disziplin, erhalten Sitzungsgelder und behalten ihre Sitze, solange ihre Parteigliederung es will. Politik wird kaum gemacht; Besucher werden selten gesehen.

Man hat sich also eingerichtet. Von einem erneuten Vorstoß eines Bezirksausschusses oder des Stadtrats auf ein Ende des Leerlaufs hat man nicht gehört. Und so kommt unsere Besichtigung zu dem Ergebnis, dass es „mehr Demokratie“ mit den Bezirksausschüssen nicht gibt und alles beim alten bleiben wird.

ep


Schwabing extra. Zeitung der Schwabinger Friedensinitiative 11/1993, 7.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Stadtviertel

Referenzen