Materialien 1994

Aufstehen statt Aussitzen

„Diese Bildungsreform verplödet uns noch alle“ – mit diesem Fazit zur Novellierung des Bayerischen Hochschulgesetzes (BHG) zogen die SoziologInnen mit weiteren 8.000 Kommilitoninnen zum Marienplatz, um gemeinsam mit den Schülerinnen gegen die geplante Bildungsreform zu demonstrieren. Noch reichte der Verstand – Zehe sei Dank – aus, um vier Tage später, am 1. Februar den Unibetrieb durch einen STREIK lahmzulegen.

Es war auch höchste Zeit für diesen Protest, um der bildungspolitischen Entwicklung der letzten zehn Jahre endlich ein Zeichen entgegen zu setzen. Der Staat hat sich während dieser Zeit zunehmend aus seiner Pflicht zurückgezogen, angemessene Rahmenbedingungen für das Studium zu gewährleisten. Die Liste der Versäumnisse ist lang und inzwischen wohl auch hinlänglich bekannt:

Mittlerweile stehen 1,9 Mio Studierenden nur Kapazitäten für 900.000 zur Verfügung. Die Betreuungsrelation, d.h. die Zahl der StudentInnen pro Lehrperson, verschlechterte sich somit von 1:10 im Jahre 1980 auf 1:17. Dies ist das Resultat einer Politik, die es nicht für nötig erachtet, mehr als 0,99 Prozent des Bruttosozialprodukts für den Bildungsbereich auszugeben. Damit befindet sich die BRD im europäischen Vergleich zusammen mit Portugal und Griechenland in der Abstiegszone.

Im gleichen Maße verschlechterte sich die soziale Absicherung der StudentInnen: Die Förderungsquote nach BAFÖG sank im Zeitraum von 1982 bis 1992 von 37 Prozent auf 28 Prozent, wobei von den Geförderten wiederum nur 21 Prozent über 800 DM erhalten. Insofern ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Anteil der Studierenden aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten mittlerweile von 23 Prozent (1982) auf 15 Prozent gesunken ist.

Die nach wie vor hohe Zahl an Studierwilligen führte jedoch nicht zu einer angemessenen Ausweitung der Finanzmittelzuweisung, sondern zu weiteren selektierenden Maßnahmen, wie der Einführung des numerus clausus in vielen Fächern und einer erheblichen Verschärfung der Prüfungsordnungen. Dies reichte aber immer noch nicht aus, die generelle Studiensituation zu verbessern: auch heute sind die Vorlesungen und Seminare überfüllt, die Betreuung ungenügend und die Bibliotheksregale leergeräumt.

Die neuerliche Bildungsreform stellt also nur einen weiteren Tiefpunkt der bildungspolitischen Talfahrt dar. Die Frage ist nur, wem nutzt diese Entwicklung?

Von Seiten der Regierung wird die Bildungsdiskussion nicht unter dem Aspekt einer besseren, umfassenderen (Aus-)Bildung geführt, sondern unter dem Stichwort „Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass die Vorgaben und Empfehlungen der Wirtschaftsverbände zunehmend Einfluss auf diese Debatte nehmen – Humboldt mit seinem hehren Bildungsideal wird nun endgültig unter den Teppich arbeitsmarktorientierter Effizienzsteigerung gekehrt. So formuliert die Bund-Länder-Kommission im „Eckwertepapier“, dass künftig ökonomische und technologiepolitische Erwägungen die Förderung von Forschungsbereichen bestimmen sollen. In Zukunft werden Geistes- und Sozialwissenschaften im Verdrängungswettbewerb um den Platz an der Drittmittel-Sonne gegen Schlüsselwissenschaften wie Materialwissenschaft, Biotechnologie und Informatik unterliegen. Für diese Entwicklung werden momentan die Weichen gestellt, indem der Staat angesichts knapper Kassen die Finanzierung der Privatwirtschaft überlassen möchte.

Dieser eingeschlagene Weg wird sich allerdings als Sackgasse erweisen. Dass ein privatwirtschaftlich organisiertes Bildungs-System nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, haben andere längst erkannt – siehe das Beispiel Amerika. Weder kann es breiten Bevölkerungsschichten eine auch nur hinreichende Bildung gewährleisten noch einen relevanten Beitrag zur Lösung von Problemen leisten, die außerhalb ökonomischer Interessen liegen. Angesichts globaler und regionaler Risiken, wie Umweltzerstörung, Erschöpfung von Ressourcen, kriegerische Konflikte, Armut und Hunger in großen Teilen der Welt, Massenarbeitslosigkeit und rechtsextreme Gewalt, erscheint eine Wissenschaft undenkbar, die vor all dem die Augen verschließt.

Solange die Regierungen sich dieser Einsicht verschließen, müssen sich die StudentInnen diesen Anforderungen selbst stellen. Ein Ansatzpunkt dazu war der Streik, in dessen Verlauf sich bereits mehrere selbstorganisierte Arbeitskreise mit der Verantwortung von Wissenschaft und Forschung beschäftigen. Ein nächstes Ziel – neben dem Widerstand gegen die weiteren Schritte der Bildungsdeform – sollte deshalb sein, eine „Universität von unten“ aufzubauen, wenn möglich unter Einbeziehung fortschrittlicher Teile des Lehrpersonals. Zu diesem Zweck werden die bestehenden Arbeitskreise weiterarbeiten und zusätzlich Autonome Seminare organisiert werden, die sich den Themen zuwenden, die in den Vorlesungsverzeichnissen höchstens eine Randexistenz führen. Anscheinend ist es nur so möglich, dass Wissenschaftskritik und bestimmte Themen wie Technologiefolgenabschätzung, Systemalternativen, Friedens- und Konfliktforschung sowie alternative Lehrmethoden Bestandteil der Universität werden. Zur Realisierung dieser Ziele stehen für das Sommersemester bereits zwei Termine fest. Vom 1. bis 5.Juni wird – diesmal in München – ein weiterer „Bildungsgipfel“ stattfinden, d.h. ein bundesweiter Kongress, auf dem studentische Alternativen ausgearbeitet werden. Am Dienstag, den 10.Mai, treffen sich um 19.00 Uhr die Interessenten autonomer Seminare, um sich zu organisieren – es versteht sich von selbst, dass mit „Interessenten“ auch diejenigen angesprochen sind, die derzeit kein Dasein als Studentin oder Dozentin führen. (Die Veranstaltungsräume werden noch bekannt gegeben!)

Tatjana Fuchs, Boris Holzer


Freidenkerinfo. DFV Ortsgruppe München vom Mai – August 1994, 14 f.

Überraschung

Jahr: 1994
Bereich: StudentInnen

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