Materialien 1995

Weltstadt mit Herz will Obdachlose zur Ordnung erziehen

Stachus-Untergeschoß: Obdachlos sitzen in abseitigen Ecken, tun keinem was, aber Polizeistreifen fordern von ihnen, zu gehen. Oft mit Ausweiskontrolle. Jetzt packen diese Menschen ihre Tüten, drehen ’ne Runde und setzen sich an ihren Platz. Dieses Räuber und Gendarm-Spiel ist der öde Alltag von Obdachlosen, denn das „Sitzen oder Liegen auf satzungsrechtlich geschütztem Verkehrsgrund“ ist eine Ordnungswidrigkeit. 200 DM für das erste „Vergehen“, ab dem zweiten kommen je 50 DM dazu, plus Gebühren. Höchstsatz 1.000 DM.

Ein Polizist der zuständigen Inspektion: „Nur weil sich die Stadt nicht kümmert, ist es unser Job, da unten aufzuräumen“. Typische unmenschliche Sprache für unseren „Freund und Helfer“. Ich dachte, immer Dreck wird aufgeräumt und dieser Staatsknecht will Menschen aufräumen. „Wir erwarten, dass sich ein Obdachloser wie jeder andere Bürger auch an die Rechtsnormen hält“, so H. Reif (KVR-Leiter, Sicherheit und Ordnung). In diesem Dorf mit S-Bahn, in dem Armut ein „Verbrechen“ ist, gibt es Satzungen, die eine „Sondernutzung“ in Form von Sitzen oder Liegen verbieten. Deshalb werden Obdachlose von Grünanlagen und Fußgängerbereichen vertrieben.

Ist das Bußgeld nach einem Monat nicht bezahlt, kommt die Mahnung und bei weiterer folgt die Zwangsvollstreckung. Da Obdachlose oft keine Postanschrift haben, wissen diese nichts von ihren Schulden. Obwohl allen der Unsinn solcher Aktionen klar ist, beharrt das KVR auf den Strafmaßnahmen.

Nur ein Vergleich, der verdeutlicht, dass es in diesem Land nicht um Gleichheit geht. Wer als Autofahrer beim Überholen andere gefährdet, zahlt 250 DM und wer fünfmal gegen die Stachusbauwerksatzung verstößt, weil er/sie dort sitzt oder liegt, zahlt 500 DM. So geht dieser Staat mit Menschen um, die aus dem Produktionsprozess und der gesellschaftlichen „Ordnung“ herausfallen. (Siehe auch BISS 4/95)

Max Hölzl


Ökologische Linke München. Rundbrief vom Winter 1995/96, 5.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Armut

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