Materialien 1995
Mehr als nur eine Geschichtsstunde
„Der Friede, der zum Krieg führt“ – Theater zum Einheitstag
Ein Kunst-Stück gelang am 3. Oktober in München. In doppelter Hinsicht.
Erstens organisatorisch: Mit einem französischen Literaturprofessor, einem britischen Journa-
listen und einem deutschen Fernsehmoderator mit nur einer Probe eine funktionierende Insze-
nierung zu veranstalten, ist genauso wenig selbstverständlich, wie die aufgebotene Prominenz, die die politische Grundüberzeugung der Initiatorinnen sicherlich nicht teilt, bei der Stange zu halten.
Zweitens inhaltlich: Die „Nachstellung“ des Münchner Abkommens war keine Nachstellung – zum Glück. Die Inszenierung blieb nicht am historischen Original kleben und erlag nicht der Faszinati-
on des „Authentischen“. Auf Original-Winkelemente bei der Ankunft des Führers wurde verzichtet. Die Betonung des „Originalschauplatzes“, dem „Führerzimmer im Führerbau“ und das Verkleben der Originalplakate von 1938 mit kleiner aktueller Unterzeile ließ ähnliches befürchten.
Über sechshundert Leute folgen den dreieinhalb Stunden dieses außergewöhnlichen Geschichts-
unterrichts. In zwei der 19 Stationen lesen im original Verhandlungszimmer Hans Brenner (Hitler), Maddalena Crippa (Mussolini), Jean Pierre Lefebvre (Daladier) und Denys Blakeway (Chamberlain) aus den Protokollen der Vertragsverhandlungen von 1938 – live per Video in den großen Konzertsaal der Musikhochschule (ehemaliger Führerbau) übertragen. In den übrigen Stationen wird auf der Bühne die Vor- und Nachgeschichte des Abkommens dokumentiert. Den personifizierten roten Faden der Inszenierung gibt Dr. Paul Schmidt (Götz Alsmann, NDR-Mode-
rator) ab, Chefdolmetscher im Auswärtigen Amt von 1923 bis 1945. Er ist immer dabei. Auch 1946 – als Zeuge der Verteidigung im Krupp-Prozeß. Dort bezeugt er, dass Hitler außenpolitisch nur vollenden wollte, was Kaiser Wilhelm und Stresemann nicht erreichten. Mit dem Auftritt von Vera Pickova wächst die Veranstaltung über ein bloßes Dokumentartheater hinaus. Die 75jährige be-
richtet, ohne Textbuch und sichtlich bewegt, wie Zehntausende, darunter sie, am 22. September 1938 in Prag gegen die deutschen Annektionspläne demonstrierten und schließlich von der tsche-
choslowakischen Regierung die Mobilmachung erzwangen. Das Abkommen wurde trotzdem – ohne Beteiligung der Tschechoslowakei – geschlossen, und bis heute weigert sich die deutsche Regierung, das Münchner Abkommen als von Anfang an für null und nichtig zu erklären.
Erst nach Abschluss des Abkommens gelangt die „Nachstellung“ zu ihrem eigentlichen Höhepunkt. Die Staatsgäste sind verabschiedet, Hitler (inzwischen ohne Bart, der über Hans Brenners Lippe nicht halten wollte) alleine auf der Freitreppe. Original Talkmaster Willemsen joggt die Treppe hoch und bittet um ein Interview. „Warum haben Sie Polen überfallen, wo Sie doch friedlich alles erreicht hatten?“ Hitler zieht den Spiegel aus der Tasche und antwortet mit einem Nolte-Inter-
view. „Der zweite Weltkrieg war tendenziell auch ein europäischer Einigungskrieg“ und erläutert Deutschlands Außenpolitik mit Zitaten aus dem „Kerneuropapapier“ der CDU/CSU-Fraktion. Willemsen schreibt eifrig mit: Deutschlands Mittellage … Ordnungsproblem im Osten … Ein-
gliederung der Nachbarn in das (west)europäische Nachkriegssystem … – Und wenn das nicht klappt? könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europas alleine und in der traditionellen Weise zu bewerk-
stelligen. – „Aha, traditionelle Weise … Ich danke für das Interview.“ Ab.
Dann hat Schmidt seinen letzten Auftritt und spricht den Lehrsatz zum Mit-nach-Hause-nehmen: „Die Hitler kommen und gehn. Schmidt bleibt bestehn. Sie können jetzt nach Hause gehn!“
Ob das Spektakel tatsächlich dazu beigetragen hat, „dass sich ‚Deutsche’ durch kein noch so hartes Vorgehen anderer Mächte gegen ‚Deutschland’ auf die Seite ihrer Regierenden stellen und zur ‚Verteidigung des Vaterlandes’ gegen diese anderen Mächte bereit finden“, wie sich das Regisseur Thomas Schmitz-Bender wünscht, bleibt die Frage. Für die, die schon seiner Meinung sind, war es jedenfalls eine gelungene politisch-ästhetische Stärkung.
ps
Stadtratte 30 vom Oktober/November 1995, 7.