Materialien 1995

Memento mori

Bis gestern habe ich noch in einer schönen Traumwelt gelebt. Bis gestern – wie lange, wie viele Ewigkeiten ist das her zu meinem Heute, ganz genau zu heute morgen, als mir die Dame am anderen Ende der Leitung ganz freundlich, und ich solle sie ja nicht missverstehen, denn sie meine es gut und ehrlich mit mir, ins Gesicht gesagt hat:

„Wissen Sie, Sie haben eine Absage auf Ihr Stellengesuch bei uns erhalten, weil Sie für unser Team zu alt sind.“

Peng! Das saß, und das Ausrufezeichen gönne ich mir frecherweise selbst, weil sie es doch ganz lieb und ehrlich gemeint hat mit mir. Wie es meistens im Leben so spielt, saß ich gerade an einem Ort, an dem Tränen nicht angebracht waren, und sparte sie mir deshalb ganz tapfer für zu Hause auf, das heißt bis zur Haustür meiner lieben Nachbarin. Ich sehe noch die Bestürzung und Fassungs-
losigkeit in ihrem jungen Gesicht – doch, doch, ein paar Stunden kann ich die Erlebnisse schon noch behalten -, als ich ihr mein Nachtmahr schilderte, erinnere auch noch die Bereitwilligkeit und das Geschehen, mich in ihre Wohnung hineinzunehmen und Trost zu spenden mit zarten Worten und behutsamem Streicheln über meine alten Arme und Hände; die Junge hat Verständnis für die Alte, die weint und stammelt und sich unappetitlich laut die Nase schneuzt. Und dann kommt das Liebe:

„Oh, nein, Sie sind doch noch gar nicht alt.“

Die Gute, wenn es nach ihr ginge, dann wäre ich noch nicht so alt. Mir würde es reichen, wenn es sich zumindest auf dem Arbeitsmarkt so einrichten ließe, denn ich gehöre zu allem Übel auch noch zu den backengebliebenen Jungfern, und die Operation Trockendock ist nun wirklich das letzte, was sich mein immer noch wilder ungezähmter Geist vorstellen kann. Reicht es? Nein, nicht ganz. Ich wünsche mir, dass ich noch einmal so jung sein kann wie gestern: mit meiner schlanken Figur und dem durchtrainierten Körper, der manche Zwanzigjährige lässig an die Wand turnt – ich habe es vor einigen Wochen gerade demonstriert. Die Natur hat mir eine große Gnade gewährt: in meinen langen rotblonden Haaren, die ich über ziemlich glattem Gesicht offen zu tragen wage, tummelt sich nicht einmal versteckt ein graues Haar, und aus meinem Mund schimmern zwei Reihen ebenmäßiger makelloser Zähne. Die Augen, nun ja, aber die haben schon in den Kinder-
tagen ihre Macken gehabt, und die Dicke der Gläser sind dank modernster Technik und passendem Portemonnaie schmalgeschönt worden.

Aus meinen jungen Jahren sind einige Restbestände an guter Garderobe erhalten geblieben: Armani, Jil Sander, Versace und als Gipfel des Snobismus: Maßgeschneidertes, aber das wissen
die Chefs ja alle nicht, die eine flotte Angestellte suchen und mir meine Bewerbungsunterlagen gnadenlos und mit verbrämten Worten durch den Meldegänger Post wieder ins Haus zurück-
schicken. Woher ich so genau um die Wahrheit weiß? Nun, weil meine Freundinnen teilweise bis zu 15 Jahren jünger sind als ich alte Schachtel, nicht mehr können, doch im Durchschnitt 100 Prozent mehr Vorstellungsgespräche erhalten, und – nun sind wir wieder am Anfang des Unglücks – weil mir die nette Dame diese Tatsache bewusst gemacht hat.

Wie alt ich bin? Gestern, den 19. März 1995, war ich, fast dreiundvierzig Jahre alt. Heute, den 20. März 1995, bin ich uralt und singe mir leise, damit mich Alte niemand hört und zu guter Letzt noch totschlägt, bevor die Zeit sich selbst die Zeit nimmt: Memento mori.

Elisabeth Meru


Haidhauser Nachrichten 10 vom Oktober 1995, 12.