Materialien 1995

Tekkno. Nacht der Welt

1
Eine erste Vorahnung von dem, was einmal als Tekkno-Party bezeichnet werden wird, findet sich in Hegels sogenannter ‚Jenaer Realphilosophie’. Dort wird ein technisch-therapeutisches Verfahren vorgestellt, das das in den Ritualen der Gewohnheit befangene Individuum kräftig durcheinander zu bringen verspricht. Worum es geht, das ist die Geburt der Tekkno-Party aus dem Geist des Geschützdonners. Um es nicht so spannend zu machen: was im Leben faul gewordener Völker und Nationen der Krieg bewirkt (nämlich eine gewaltige Erschütterung, die alles Festgewordene und Erstarrte wieder in die Flüssigkeit des historischen Prozesses überführt) leistet für den Bereich des modernen Freizeitlebens die Tekkno-Party. Die Destruktivkräfte des neuzeitlichen Krieges finden – pazifistisch gewendet – Eingang ins musikalisch-technische Gesamtkunstwerk. Wie gestern im Kugelhagel kommt heute der Mensch im Stroboskopgewitter zu sich selbst, erfährt sich als das, was er jenseits seiner vom bürgerlichen System des Wohlseins diktierten Rolle eigentlich ist: ein Nichts, eine tabu la rasa, die sich jederzeit neuer Beschriftung zu öffnen hat. Wenn, wie Hegel meint, der Prozess der Subjektivität großer erschütternder Erfahrungen bedarf, die „alles Fixe“ beben und alles Bestehende absolut flüssig werden lassen1, so kann die Tekkno-Party hier ähnlich zuverlässige Dienste leisten wie das Erlebnis der Bewährung im Kampfe.

2
Schon Hegel war sich im Klaren darüber, dass die Läuterung des Spießers zu einem von jeder Bestimmtheit befreiten Selbst, zur „reinen abstrakten Negativität“, sich nur in einem hoch technisierten Fegefeuer angemessen verwirklichen lässt. Nicht in der heißen Wut eines Kampfs von Mann gegen Mann, „wo der Einzelne den Gegner ins Auge fasst und in unmittelbarem Hasse denselben tötet“2, sondern nur in der ganz und gar nackten Angst, in dem von jedem persönlichen Hass gereinigten abstrakten Stahlgewitter des modernen Krieges, erfährt das Subjekt seine wirkliche innerliche Auflösung, das absolute Flüssigwerden all seiner Bestimmungen. Die vollkommenste Negativitätserfahrung, die sich Hegel denken konnte, ist das Abfallprodukt einer Kriegstechnik, die die Gefahr des Todes zu einer ebenso abstrakten wie allgegenwärtigen macht: Zeitgemäß erfährt das Ich die äußerste Erschütterung seiner selbst nur in der abstrakten Angst vor einem ungreifbaren, kalten und gleichsam maschinellen Tod, der „leer gegeben und empfangen wird, unpersönlich, aus dem Pulverdampf“.3

3
War für Hegel die Erfahrung der Ichlosigkeit an die „wirkliche Aufopferung des Selbst“ in „Soldatenstand und Krieg“ gekoppelt, so erlaubt der heutige Stand der Produktiv- und Simulationskräfte ein zivileres Vorgehen: Rein technisch ist beispielsweise die Erfahrung von Hochgeschwindigkeit längst nicht mehr ans Paradigma der Gewehrkugel geknüpft, deren Pfeifen man erst hört, wenn man schon tot ist; ebenso wenig wie man sich heute unter der Flugbahn einer Kanonenkugel postieren muss, um zu spüren, was eine Druckwelle ist. Die Tekknoparty löst solche einst der Fronterfahrung vorbehaltenen Schockmomente moderner Technik aus ihrem kriegerischen Zusammenhang und integriert sie in der friedlichen Prozedur einer hochinstrumentierten Ekstasetechnik. Unter Vermeidung ihrer realen Entfesselung beschwört sie die ungeheure Wirkung neuzeitlicher Destruktivkräfte: Was dem Grabenkrieg sein Trommelfeuer, ist der Tekknoparty die non-stop-Behagelung des Trommelfells; Schwaden künstlichen Nebels lassen Freund und Feind ununterscheidbar werden; Bässe im Infraschall parodieren den Geschützdonner von Jena. Über die Wirkung des Stroboskop-Effekts, der dem Tekkno-Subjekt das Schauspiel aufblitzenden Mündungsfeuers ersetzt, hat bereits Hegel sich kennerhaft geäußert: Er schafft eine „Nacht der Aufbewahrung“, in der „ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen“ nur auftaucht, um gleich wieder zu verschwinden: wie „in phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt dann ein blutiger Kopf, dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwinden ebenso“.4

4
Der Zustand, den die archaischen Ekstasetechniken der Naturreligionen hervorzurufen suchen, besteht, wie Hegel in einer sehr abfälligen Bemerkung über den ‚Kultus in der Religion der Zauberei’ bemerkt, in „sinnliche® Betäubung, wo der besondere Wille vergessen, ausgelöscht und das abstrakt sinnliche Bewusstsein aufs höchste gesteigert wird. Die Mittel, diese Betäubung hervorzubringen, sind Tanz, Musik, Geschrei, Fressen, selbst Mischung der Geschlechter“.5 Von solcher Naturhaftigkeit ist allerdings die Tekknoparty weit entfernt. In ihr gelangen Trance- und Ekstasetechniken zu einer abstrakt-technischen Perfektion, die mit der Sinnlichkeit naturreligiöser Verschmelzung nichts mehr zu tun hat. Die Auflösung, die das Subjekt im Tekkno-Kult erfährt, hat eher den Charakter der Zerlegung als der Vermischung; die Körpergrenzen zerfließen nicht, sie werden zerhackt. Die Dekomposition des Ich im Stakkato des Tekknobeats, die maschinelle Zerstückelung des Körpers in Partialobjekte unterm Stroboskopgewitter, das ist Negativitätserfahrung auf dem heutigen Stand der Produktivkräfte. In der ehemaligen Charterhalle des alten Flughafens können alle, die fünfzehn Mark zu opfern bereit sind, ohne Gefahr des Todes in die Nacht ihrer Subjektivität eintreten.

5
Der Blick in die „Nacht der Welt“ gehört allerdings, wie Hegel betont, dem „träumenden Geiste“ an: dieser kommt nicht umhin, irgend wann zu erwachen, d.h.: das magische Viereck der Tanzfläche zu verlassen. Nicht umsonst aber spricht Hegel von diesem Erwachen als dem Eintauchen in „das Reich der Namen“. Und tatsächlich: eben noch ganz „reines Selbst“ und versunken in einer Nacht „jenseits der Welt“ („Ultraworld“ nennen sich diese Tanzabende), sieht sich das Tekkno-Subjekt, auch wenn vielleicht nur mal kurz aufs Klo wollte, wie, ganz dem strengen Regiment jenes „Reichs des Namen“ unterworfen, das die Freizeitindustrie im Namen der „neuen Münchner Hallenkultur der aufgelösten Ordnung des Flughafens aufgepfropft hat. Wie sich des alten Adams „erste Schöpferkraft“ zunächst mal darin geäußert hat, „allen Dingen einen Namen“ zu geben6, machen auch die neuen Herren über die alten Terminals ihr „Majestätsrecht und erste Besitzergreifung“7 geltend, indem sie symbolisch Bezirke abstecken, eine ganze Ordnung der Trennungen, der Absperrungen und der kanalisierten Bewegungen entwerfen, die dann allabendlich nur noch von austauschbaren Konsumenten-Subjekten ausgefüllt zu werden braucht. Wegweisende Schilder lenken dich in deine Warteschlange: „Orange disco“, „Kontaktparty“, „Fangoparty“, „Bundymania“ oder eben Ultraworld; Security-Schergen checken deinen body auf mögliche Sicherheitsrisiken ab, schlagstockbewehrte Uniformierte verwehren deinem unbefugten, schon nicht mehr träumenden Geist den Zutritt zu einem „V.I.P.-Lounge“ genannten Sperrbezirk, Sanitäter patrouillieren durch die Wartehallen und vor den Klos wacht ein schläfriger Student über die Einhaltung der symbolischen Grenze zwischen Damen und Herren.

6
Alles verhält sich ganz so, als müsste hier der Gefahr einer im Tekkno-Rausch erzeugten Zerfalls-Energie durch die prophylaktische Identitätsfixierung des Subjekts und die ordnungsmäßige Begrenzung seiner Handlungsmöglichkeiten begegnet werden; es ist, als ob der in der stroboskop-durchzuckten „Nacht der Welt“ bloß simulierte Zusammenbruch der symbolischen Ordnung sogleich eine paranoid-despotische Überproduktion von symbolischen Begrenzungen und Einschränkungen ins Leben rufen müsste. Wenn’s wahr ist: denn es ist ja nicht gesagt, dass die Repression und die Leidenschaft der Unschädlichmachung noch einen Indikator für eine geheime subversive Kraft abgeben. Jedenfalls: wenn Tekkno sich der Hegelschen Tradition als würdig erweisen will, muss es (wie der Hegelsche „Krieg“) die Subjekte „von Zeit zu Zeit“ durch Tekknoparties erschüttern, „ihre […] zurechtgemachte Ordnung […] verletzen und verwirren“.8 Richtig ist, dass es dazu einen Schauplatz braucht: irgendwo muss sich schließlich die Ultra-Welt in unser Universum hineinstülpen, irgendwo müssen die Boxen stehen. Der Riemer Freizeitknast der Ordnungswächter und Jugendingenieure aber ist der übelste Landeplatz für alles, was ein wenig Fremdheit bewahren will: hier ist der trance- und traumhapperte Weltuntergang nichts anderes als ein theatralischer Schein, eine folgenlose Illusion; die „Nacht der Welt“ nur eine profitable Geisterbahn.

:::

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt am Main 1973, 153.

2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Realphilosophie, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1969, 261 f.

3 A.a.O., 262.

4 A.a.O., 180.

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke Bd. 16, Frankfurt am Main 1986, 301f.

6 Jenaer Realphilosophie, 183.

7 A.a.O.

8 Phänomenologie des Geistes, a.a.O.,335.


Stadtratte 19 vom Januar/Februar 1994, 16.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Jugend

Referenzen