Materialien 1995

Die deutschen Mullahs proben den Aufstand

Oder:
Wie einmal das Abendland vor dem Untergang gerettet wurde.

Im Jahre des Herrn eintausendneunhundertundfünfundneunzig verkündete das Bundesverfas-
sungsgericht in Karlsruhe ein Urteil. Daran ist eigentlich nichts bemerkenswertes, und auch die Verfassungsrichter haben sich offensichtlich nichts Böses dabei gedacht. Es geht um die Volks-
schulordnung im Bundesland Bayern, zumindest glauben das die Richter. In Wirklichkeit zeigt sich binnen Stunden, dass es um sehr viel mehr geht: um den Untergang des Abendlandes, des christ-
lichen. Das Verfassungsgericht hat einen Abschnitt dieser bayerischen Schulordnung für verfas-
sungswidrig erklärt, nach dem in allen Klassenzimmern aller bayerischen Volksschulen ein Kruzi-
fix oder Kreuz hängen musste. Aber das Urteil hat noch einen anderen Aspekt: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG“, also gegen das Grundgesetz. So das Bundes-
verfassungsgericht im ersten von zwei „Leitsätzen“ zu seinem Urteil.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt daraufhin zu Recht auf der Titelseite fest, dass nunmehr Kreuze in Klassenzimmern verfassungswidrig und also verboten sind.

Die Reaktionen kommen schnell und lawinenartig, wie sich das in schwierigem und gebirgigem Gelände gehört. Sie schwanken zwischen Verständnislosigkeit und Empörung. Der damalige Bundeskanzler etwa lässt sich mit der Bemerkung zitieren, er halte das Urteil für „unverständlich“. Nun, ein guter oder auch nur durchschnittlicher Verfassungsjurist hätte es ihm sicher erklären können.

Das intolerante Gericht

Das Hamburger Abendblatt hebt den grundsätzlich moralischen Zeigefinger: den der Toleranz. Nachdem das Blatt feststellt, dass „immerhin aber noch“ rund 70 Prozent der Bevölkerung Chri-
sten sind – nun, eigentlich Kirchensteuerzahler – klagt es darüber, „dass die Rechtsprechung immer weniger die Interessen der Mehrheit im Blick hat als vielmehr die von Außenseitern.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung teilt, wie viele andere Kommentatoren, diese Einschätzung: Die Mehrheit der Verfassungsrichter, so die Zeitung, „bewertet das jedem einzelne zustehende Grund-
recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und das individuelle elterliche Erziehungsrecht höher als den Wunsch der Mehrheit, sich zu Symbolen des christlichen Glaubens zu bekennen.“ Welch eine Kritik: dem Verfassungsgericht weinerlich vorzuwerfen, dass es Grundrechte höher als Wün-
sche achte! Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber bläst ins gleiche Horn. Er kritisiert, dass „in der Rechtsprechung immer häufiger die Interessen irgendeiner Minderheit den Vorrang vor denen der Mehrheit“ genössen. Das Toleranzgebot müsse auch die Mehrheit schützen. Demge-
genüber drückt das die Evangelische Kirche in Deutschland vornehmer aus: „Die Toleranz sollte sich auch darin bewähren, dass herkömmliche, historisch gewachsene Ausdrucksformen des reli-
giösen Lebens, wo sie der eigenen Überzeugung nicht entsprechen, gleichwohl nicht bekämpft, sondern ertragen werden.“ Damit hat sie zweifellos Recht, wenn auch nicht klar ist was das mit dem Urteil zu tun hat. Schließlich richtet sich dieser richtige Appell seinem Charakter nach vor allem an die Nichtchristen und nicht an das Gericht. Der Bischof von Trier, Hermann Josef Spital, wird demgegenüber viel deutlicher. Er meint, dass „auch die Mehrheit nicht von der Minderheit vergewaltigt werden“ dürfe. Was die Verfassungsrichter in ihrem Urteil und voller Intoleranz da-
nach wohl getan haben. Friedrich Kardinal Wetter – Erzbischof von München und Freising – nennt die Entscheidung ein „Intoleranzedikt“. Der Deutsche Philologenverband sekundiert. Er stellt fest, dass dem „Minderheitenschutz eine überhöhte Bedeutung zugemessen“ werde. Dem damaligen Bildungsminister Jürgen Rüttgers gelingt es, die Argumente von Toleranz und „Mehr-
heit“ miteinander zu verbinden: „Toleranz bedeutet nicht nur, Respekt vor der Meinung von Min-
derheiten, sondern auch vor der Überzeugung der Mehrheit zu haben.“ Aha, jetzt wissen wir Be-
scheid: Minderheiten haben Meinungen, die Mehrheit eine Überzeugung. Und: „Wer eine Gesell-
schaft ihrer Werte und Symbole beraubt, macht sie heimatlos und zukunftsunfähig.“ Kein Grund zum Erstaunen, der Mann war „Zukunftsminister“.

Die Richter haben die „Toleranz“ also wohl falsch verstanden oder sie zumindest übertrieben. Überhaupt kommt dieser Wert bei der Urteilsschelte zu hohen Ehren, wie man es sich gelegentlich bei anderen Fragen öfter einmal wünschen würde. Das Hamburger Abendblatt stellt klar: „Wer das Karlsruher Kreuzes-Urteil mit ‘Toleranz’ in Verbindung bringt, verdreht den Begriff. Tolerant wäre, das Kreuz zu dulden, auch wenn man sich zu seinem Sinn nicht bekennt.“ Wie schön! Nun hat das Urteil mit „Toleranz“ kaum etwas, aber mit der Trennung von Kirche und Staat eine Menge zu tun, aber es ist doch klar, dass hier gefälligst die Minderheit „Toleranz“ gegenüber der Mehrheit üben – und dass die Richter nicht Recht sprechen, sondern die Mehrheit vor einer nicht näher er-
klärten Minderheit schützen sollen.

Die Abendland und seine Kultur

Aber es geht noch grundsätzlicher. So wird nämlich zuerst das Kreuz als Symbol des Christentums vorgestellt, das eben darum nicht „beseitigt“ werden dürfe, um wenige Zeilen später das selbige Kreuz quasi zu säkularisieren, zu entchristianisieren, und zum Symbol allgemein menschlicher (und nicht spezifisch christlicher) Werte zu machen – und eben deshalb seinen Verbleib in den Klassenzimmern zu verlangen. „Was verdankt Deutschland dem Christentum?“ – fragt der besorg-
te Abendländer des Hamburger Abendblattes. Nicht etwa die Krankenhäuser, die Kreuzzüge oder die verstärkten Umsätze des Einzelhandels zur Weihnachtszeit, sondern etwas ganz anderes. „Es verdankt ihm seine Kultur, seine Rechtsordnung, eine liberale Gesetzgebung, die Menschenrechte, den sozialen Ausgleich.“ Man darf halt von Geschichte überhaupt nichts verstehen, um an ihr seine rechte Freude zu haben: nicht die Aufklärung, die Revolutionen in Frankreich und Amerika und die UNO-Generalversammlung haben die Menschenrechte erkämpft und kodifiziert, sondern das Christentum. Inquisition, offene und klammheimliche Begeisterung für den Faschismus, die Dis-
kriminierung von Frauen innerhalb und außerhalb der Kirche – das sind demgegenüber keine Be-
standteile christlicher Tradition. Viele der demokratischen und liberalen Rechte mussten ja erst in jahrhundertelangen Kämpfen gegen Ideologie und Macht der Kirche durchgesetzt werden, eine Aufgabe, die noch immer nicht vollendet ist. Jetzt wird uns weisgemacht, dass all diese Rechte vom Christentum über das Abendland gebracht wurden. Ein Angriff gegen das christliche Symbol „Kreuz“ ist damit ein Angriff auf den Kern der westlichen Zivilisation. Schließlich ist das Kreuz nicht nur ein christliches Zeichen, sondern auch das Gegenteil, ein allgemein menschliches: „Denn das Kreuz ist nach und nach und durch Jesu Opfertod zum Symbol“ – eben nicht einer bestimmten Religion oder Konfession, sondern – „der Menschlichkeit, Solidarität, Hingabe und Versöhnung geworden.“ Wer könnte da noch gegen das Kreuz an der Wand sein? Wer wäre schon gegen Ver-
söhnung und Menschlichkeit, von den Verfassungsrichtern einmal abgesehen?

Die damalige Familienministerin Claudia Nolte meinte: „Das Urteil widerspricht dem Empfinden der großen Mehrheit in unserem Land, die sich zum Christentum bekennt,“ und stellt klar: „Ein Kruzifix bedroht doch niemanden.“ Als hätte das jemand behauptet. Und der CDU/CSU-Fraktions-
chef im Bundestag, Wolfgang Schäuble, erweitert diesen schönen Gedanken noch, indem er formu-
liert: „Das christliche Erbe hat noch niemandem geschadet.“ Was, nebenbei bemerkt, die bosni-
schen Muslime, die Opfer der Heiligen Inquisition und der ebenso Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre oder Ärzte in den USA, die Abtreibungen vorgenommen haben (und von christli-
chen Fundamentalisten bedroht und angegriffen werden), möglicherweise anders bewerten dürf-
ten. Allerdings, und das ist natürlich richtig, werden die jeweiligen Bluttaten ja nicht vom Erbe, sondern von den Erben begangen.

Aber Kanzler Kohl fühlt sich bemüßigt, die Harmlosigkeit des Kreuzes zu bestätigen. Die Deutsche Presseagentur berichtet von des Kanzlers und Historikers Äußerung: „Das Kreuz als Symbol des christlichen Glaubens stelle auch keine Bedrohung dar, sondern sei eine Hilfe für die Mehrheit der Menschen, sich an christlichen Werten zu orientieren. Die Offenheit einer pluralistischen Gesell-
schaft“ – das ist Kohls Beitrag zur Debatte, der Pluralismus ist bis dahin kaum bemüht worden – „wäre nach Kohls Worten falsch verstanden, wenn sie dazu führte, dass die Werte der abendlän-
dischen Kultur aufgegeben würden.“ Hatte das denn jemand vorgeschlagen, die Werte der abend-
ländischen Kultur aufzugeben? Ist das der Inhalt, die Absicht, oder die Wirkung des Gerichtsur-
teils? „Nach den bitteren Erfahrungen mit den antichristlichen Ideologien dieses Jahrhunderts“ – der Kanzler meint Faschismus und Kommunismus – „und ihren schrecklichen, menschenverach-
tenden Auswirkungen fühlen wir uns in besonderer Weise verpflichtet“ – wer ist hier eigentlich „wir“? – „diese Werte an die kommenden Generationen zu geben.“

Nun, begründet der damalige Kanzler damit die Kritik am Gerichtsurteil mit den Verbrechen der Nazis? So offen demagogisch kann man doch gar nicht sein! Doch, man kann. Das Landeskomitee der Katholiken in Bayern ist sich nicht zu blöde, zu verlautbaren: „Das Urteil weckt ungute Erinne-
rungen an die Entfernung von Kreuzen aus Schulen in der Nazi-Zeit.“ Wie hatte doch schon das zitierte Hamburger Abendblatt geleitartikelt: „Hitlers blutiger Werdegang begann mit der Entfer-
nung der Kreuze.“ Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Bischof Lehmann, meint, das „Entfernen von Kreuzen aus den Klassenzimmern erinnert an keine gute Vergangenheit in unserem Land“. Die Neue Osnabrücker Zeitung sieht „eine neue Form von Kul-
turkampf“, die Bischöfin der Nordelbischen Kirche, Maria Jepsen, „eine Art neuen Kirchenkampf“ voraus, und das vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlte Fernsehmagazin Report prophezeit „eine Art Religionskrieg“.

Warum dieser ideologische Bombast, warum diese Aufgeregtheit, diese demonstrative Hysterie an-
gesichts der Rechtsprechung über einen Paragraphen der bayerischen Volksschulverordnung? Weil es eben nicht nur um diesen Paragraphen geht.

Die Angst um die Identität

Versuchen wir einmal, die Hauptbeschwerden zusammenzufassen und das Pathos zu vernachläs-
sigen. Welche konkreten Kritikpunkte werden vorgebracht? Zuerst einmal, und darauf haben wir bereits hingewiesen, das Argument der Toleranz. Das Urteil sei intolerant der christlichen Bevölke-
rungsgruppe gegenüber. Zweitens, und damit oft verknüpft, hören wir vom Argument der großen Zahl: die Mehrheit sei benachteiligt oder ignoriert worden. Wir erfahren allerdings nie, wer eigent-
lich mit der entsprechenden „Minderheit“ gemeint ist, zu deren Gunsten die „Mehrheit“ diskrimi-
niert wird: sind es nur die Prozesskläger, sind es alle Nichtchristen, alle Atheisten, alle, die für eine Trennung von Kirche und Staat eintreten? Drittens ist davon die Rede, dass das Christentum ver-
dienstvoll und deshalb schutzwürdig sei. Viertens vernehmen wir, dass das Christentum zum we-
sentlichen Teil der (christlich)-abendländischen Kultur und Zivilisation geworden ist, und eben deshalb geschützt werden müsse. Besonders in Bayern wird der Richterspruch quasi als Angriff auf lokales Brauchtum aufgefasst. Fünftens wird eingewandt, dass das fragliche Urteil Ausdruck des „Werteverfalls“, eines verbreiteten „Werterelativismus“ sei. Sechstens sei es wohl nur ein weiterer Schritt, Christentum und Kirchen in der Gesellschaft verstärkt in die Defensive zu drängen.

Interessant an diesem Argumentbündel sind mehrere Dinge. Das Urteil wird kaum juristisch be-
trachtet, obwohl die üblichen konservativen Gesinnungsjuristen sich halbherzig daran versuchen. Der Kern der Kritik zielt auf die Bewahrung einer Identität, nämlich der christlich-abendländi-
schen. Der damalige CSU-Vorsitzende Waigel befürchtet, das Verfassungsgericht habe sich auf einen Weg begeben, der „zu einer Abkehr von den moralischen und sittlichen Wurzeln unseres Gemeinwesens führen könnte.“ Das Gericht habe eine „Abkehr von Gott“ gefordert. Da ist es kein Wunder, dass er „das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und (den) Verfassungspatriotismus in Gefahr“ sieht. Die moralische und religiöse Substanz, die Identität nicht nur Bayerns, nicht nur Deutschlands (zumindest seines westlichen Teils, im Osten hält sich die Empörung in Grenzen), sondern der abendländischen Kultur sind bedroht. Der vatikanische Osservatore Romano – im-
mer schon eine militante Hochburg jeder Form von Toleranz – sieht einen „fehlgeleiteten religiö-
sen Pluralismus“ am Werke. Dieses Treiben des Verfassungsgerichtes „reiße die geistlichen und kulturellen Wurzeln Europas aus.“ Wir wollen nicht klagen, dass die kulturellen Wurzeln Europas dann weder sehr tief noch fest sein können – was der Verfasser schon immer befürchtet hatte. Wir wollen auch nicht über die erstaunlich hohe Bedeutung der bayerischen Volksschulordnung für die europäische Kultur räsonieren – aber wir müssen doch bemerken, dass nicht nur der Vatikan den europäischen Geist und seine Kultur ausgerechnet durch einen – natürlich fehlgeleiteten – „reli-
giösen Pluralismus“ bedroht sieht. Das ist pikant, und darauf wird zurückzukommen sein. Schließ-
lich haben zahllose abendländische Ideologen – wir erinnern uns an den Kanzler – den Pluralis-
mus so oft und gern zu einem Zentralbestandteil europäisch-abendländischer Kultur erklärt, dass wir fast schon daran geglaubt hätten.

Der Osservatore Romano sieht die deutschen Katholiken „in ihrem Glauben beleidigt“ und diagno-
stiziert eine „Verletzung der Religionsfreiheit“. Damit bringt er viele Argumente der Kritik auf den Punkt, die im fraglichen Urteil vor allem eine anti-christliche Maßnahme sehen. Und genau darin liegt die Pointe.

Staat und Kirche

Das Urteil zielt nämlich eben nicht auf ein Zurückdrängen des Christentums in der Gesellschaft. Noch weniger geht es um eine Schwächung der abendländischen Kultur, sondern eher um das Gegenteil. Es geht auch nicht darum, „Werterelativismus“ zu üben, den es in unserer Gesellschaft zweifellos gibt. Ebenso wenig geht es darum, das Brauchtum zu bekämpfen oder die öffentliche Religionsausübung zu erschweren. Von einer Beleidigung der Gläubigen, oder einer Missachtung der Mehrheit kann bei dem banalen und selbstverständlichen Richterspruch ebenfalls nicht die Rede sein. Es geht vor allem um eines: um die Trennung von Kirche und Staat, und damit um einen der immer wieder vorgetragenen Bestandteile westlicher Identität, der dem islamischen Kulturkreis so gern vorgehalten bzw. um die Ohren gehauen wird. Niemand soll oder wird durch das Urteil am Glauben, am Beten, an Gottesverehrung oder sonstigen Äußerungen der Religiosität gehindert. Nur zwei Dinge werden klargestellt: dass der Staat erstens in religiösen Dingen neutral zu sein hat, und zwischen Katholiken, Protestanten, Christen, Juden, Muslimen, Atheisten und a-religiösen Menschen keine Position beziehen darf. Und dass er zweitens keine religiöse Instanz sein darf, sondern von der Sphäre der Religion getrennt bleiben muss, was schon aus dem Neutra-
litätsgebot offensichtlich folgt. Das ist alles. Nicht das Kreuz oder seine Verehrung werden verbo-
ten oder eingeschränkt, sondern allein die staatlich organisierte Verehrung des Kreuzes. Nur da-
rum geht es.

Die Gläubigen können selbstverständlich weiterhin ihre religiösen Symbole benutzen, verehren oder öffentlich zeigen – aber sie können nicht erwarten, dass der Staat das für sie und an ihrer Stelle tut, und das auch noch gegen Nichtchristen. Das ist wenig spektakulär, es bedeutet nicht mehr, als die immer noch unvollkommene Trennung von Kirche und Staat ein winziges bisschen weiterzutreiben, Säkularität ein klein wenig ernster zu nehmen, und den Geist der europäischen Aufklärung aus dem Schrank zu holen. Wer das für eine „Verletzung der Religionsfreiheit“ zu halten beliebt, wer es mit „Werterelativismus“ verwechselt, wer glauben möchte, die kulturellen Wurzeln Europas seien bedroht, oder wer das auch nur für „unverständlich“ hält – der hat den säkularen Charakter das Staates entweder nicht akzeptiert oder tatsächlich nicht verstanden. Wer glaubt oder sagt, dieses Urteil habe etwas mit „Pluralismus“ oder mit „Mehrheiten“ oder „Minder-
heit“ zu tun, der verlegt das Problem in die Gesellschaft, während es doch in Wirklichkeit eine Frage ist, dass und wie sich der Staat aus religiösen Meinungsunterschieden in der Gesellschaft herauszuhalten hat. Die Kritiker haben sich mit dem säkularen Charakter des Staates nicht wirk-
lich abgefunden, sie rebellieren gegen die saubere Trennung von Kirche und Staat. Sie wollen dem Staat eine religiöse, natürlich christliche, Grundlage geben, und ihn zugleich zum Handlanger religiöser Auffassungen machen, die dann auch nicht-christliche oder nicht-religiöse Bürger zu erdulden hätten. Eine bereits mehrfach zitierte Hamburger Zeitung schreibt: „Am Anfang der Bundesrepublik stand das Bekenntnis zu Gott, zum Christentum und damit zum Kreuz. Beides darf nicht vergessen werden.“ Und der Bischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, stellt bedau-
ernd aber zu Recht fest: „Es gibt in unserer Gesellschaft Tendenzen, Glauben und Religion in den Bereich des Privaten abzudrängen.“ Der schon zitierte Kardinal Wetter erkannte, das Urteil „ver-
ordnet in letzter Konsequenz staatliche Religionslosigkeit und die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben.“ Nicht ganz. Die Urteilsbegründung der Verfassungsrichter macht über-
deutlich, dass Religion im Rahmen des Grundgesetzes durchaus öffentlich sein kann und darf – aber dass der Staat eben weitgehend – nicht ganz – religionspolitisch neutral, also praktisch non-religiös zu sein hat. Glaube und Religion haben im säkularen Staat nichts zu suchen, darüber belehren wir ja viele Muslime mit großer Energie und Überheblichkeit. Sie gehören in die Gesell-
schaft und ins Private. Jetzt wäre es doch schön, das selbst zu begreifen. Schließlich hatten die Richter diesen Punkt deutlich genug erklärt:

„Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religi-
on weder vorschreiben noch verbieten. … Zwar hat er [der Einzelne] in einer Gesellschaft, die un-
terschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubens-
bekundungen kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmög-
lichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser mani-
festiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.“

Glaube ist Privatsache. Das heißt nicht, dass dieser – oder ein anderer – Glaube nicht in der Öf-
fentlichkeit praktiziert oder gezeigt werden dürfte. Die Religionsfreiheit garantiert das, und das ist gut und richtig. Aber das Recht, seinen Glauben auch öffentlich zeigen zu dürfen, beinhaltet nicht das Recht, den Staat mit religiösen Aufgaben zu betrauen. Die Neue Osnabrücker Zeitung be-
fürchtet schon, dass nach dem Urteil des höchsten Gerichts das Kreuz auch von öffentlichen Plät-
zen und Friedhöfen verschwinden solle, und ein Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen fragt besorgt: „Was, wenn christliche Eltern darüber klagen, dass muslimische Mädchen in deutschen Schulen Kopftücher tragen?“

Nun, wenn muslimische Mädchen Kopftücher tragen oder christliche Jungen ein Goldkreuz am Kettchen um den Hals, dann sind das Akte individueller, persönlicher Religiosität (oder fehlgelei-
teten Modebewusstseins). Ein säkularer Staat hat die Aufgabe, diese Lebensäußerungen nicht nur zu tolerieren, sondern zu schützen – unabhängig davon, ob er sie teilt oder begreift. Und unabhän-
gig davon, ob die Betroffenen einer „Mehrheit“ oder einer „Minderheit“ angehören. Wie hatte das Gericht es so schön und klar formuliert: „Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz kommt es dabei [bei dem Verbot der Privilegierung bestimmter Bekenntnisse oder der Ausgren-
zung Andersgläubiger] nicht an.“ Das nennt man Freiheit der Religionsausübung. Wenn sich gläu-
bige Christen (oder Juden, Muslime, oder sonst eine religiöse Gruppe oder Person) öffentlich zu Gott bekennen wollen, so gilt dasselbe, und zwar mit großer Selbstverständlichkeit. Wenn aber der Staat nun dekretieren wollte, daß alle oder bestimmte Mädchen Kopftücher oder alle oder be-
stimmte Jungen Goldkreuze um den Hals tragen müssten (oder: nicht tragen dürften) – dann wäre das offensichtlich verfassungswidrig.

Die Verfassung, die Mullahs und die Werte

Bei der hohen Bedeutung von bayerischer Schulordnung und abendländischen Werten nimmt es kein Wunder, dass das verfassungsgerichtliche Treiben nicht einfach bedauerlich oder schrecklich, sondern viel schlimmer ist. Die Entscheidung der Richter rühre „an Grundlagen der staatlichen Gemeinschaft überhaupt,“ so Friedrich Kardinal Wetter. Starker Tobak, Herr Kardinal. Spielt er damit auf die Äußerung des CSU-Landtagsabgeordneten Sepp Ranner an, der die Verfassungs-
richter auffordert, doch eigenhändig die Kreuze zu entfernen: Er erläutert den Sinn dieser Idee so: „Wir Bauern werden sie jedenfalls gebührend mit Dreschflegeln erwarten.“ Ist es das, was der bayerische Ex-Kultusminister Hans Maier im Sinn hat, als er meint, „gegen den Unsinn und Über-
mut auch höchster Gerichte ist Widerstand geboten“? Der stellvertretende CSU-Vorsitzende Friedrich meint, ein Verbot der Kreuze in Schulräumen sei selbst verfassungswidrig. Dann sei „nach ernsthafter Prüfung des Gewissens persönlicher Widerstand nach Artikel 20 des Grundge-
setzes gerechtfertigt.“

Sind dies nicht die gleichen Kreise, die mehr als ein Jahrzehnt zuvor die Parolen der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung („Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“) für subversiv und verfassungswidrig zu halten beliebten? Ist hier der „Wertewandel“ mitten ins christliche Kir-
chenvolk gefahren? Ist am Aufruf zur Gewalt gegen die höchsten Richter der Republik durch den Dreschflegel Ranner nichts weiter bemerkenswert? Es ist dann kaum noch überraschend, dass die klagenden Eltern als Anlassgeber des Urteils sich bald mit mehr als zwanzig Todesdrohungen kon-
frontiert sehen. Ob in ihrer Glaubensfreiheit tief verletzte Christen damit ihrem Toleranzverständ-
nis Ausdruck geben möchten? War irgendwo hoch droben in den bayerischen Bergen heimlich eine fatwa verfasst worden, die die Familie Seler zum Abschuss freigab, um das Abendland und ihre Kruzifixe zu retten?

Nicht nur geht es vielen Kritikern darum, eine „staatliche Religionslosigkeit“ zu bekämpfen und sich der Säkularisierung zu widersetzen. Nicht nur haben sie nicht verstanden, was das Gericht so ausgedrückt hat: „Die positive Glaubensfreiheit kommt allen Eltern und Schülern gleichermaßen zu, nicht nur den christlichen. Der daraus entstehende Konflikt lässt sich nicht nach dem Mehr-
heitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht auf Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten.“ Nicht nur haben sie also die „abendländischen“ Werte der Toleranz, die sie so gern beschwören, der Religionsfreiheit, der Trennung von Kirche und Staat und andere Werte der Aufklärung – nicht unbedingt des Christentums – vergessen, verdrängt oder nicht begriffen. Nein, darüber hinaus führt sie ihre vor-aufklärerische Grundhaltung zur Aufkün-
digung des Verfassungskonsenses und sogar zur offen erklärten Verfassungsfeindlichkeit in einem sehr realen Sinne. Dabei geht es nicht nur darum, dass der schon zitierte CSU-Landtagsabgeordne-
te öffentlich zur Gewalt gegen die Verfassungsrichter aufruft. Die Drohung mit Dreschflegeln gegen die Richter ist kein Ausrutscher. Zahlreiche hochrangige und prominente Politiker fordern zum Widerstand und zur Nichtbeachtung des Urteils – und damit der Verfassung – auf. Der Focus fragt den bayerischen Ex-Kultusminister und Katholikenfunktionär Hans Maier: „Sollten die bayeri-
schen Schulen – wie es CSU-Politiker fordern – das Urteil ignorieren?“ Und der Mann antwortet: „Ja, unbedingt.“ Was soll das bedeuten, wenn nicht den öffentlichen Aufruf zum Verfassungs-
bruch? Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber lässt verlauten: „Wir haben keine Rechtsgrundlage mehr für die Verpflichtung, Schulkreuze anzubringen. Aber das bedeutet nicht, dass wir generell keine Kruzifixe aufhängen dürfen.“ Herr Stoiber, das Verfassungsgericht hatte entschieden: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG“. Eigent-
lich ist das deutlich genug. Aber nicht für die bayerische Staatsregierung und ihren Ministerpräsi-
denten, deren Position von der Deutschen Presseagentur so zusammengefasst wird: „Ziel ist der schwierige Spagat, einerseits das Karlsruher Urteil zu respektieren und andererseits die Schulkreu-
ze dennoch weitgehend in den Klassen zu belassen. … Da Stoiber nach dem Wirbel um das Urteil aber unbedingt Flagge zeigen und die bayerische Tradition bewahren will, ist als Lösung eine Er-
gänzung des bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes wahrscheinlicher [als andere Lö-
sungen]. Dort könnte man nach einem Vorschlag von [Staatsrechtler und Professor] Badura die Kreuze verpflichtend vorschreiben, sofern Ausnahmen vorgesehen seien.“

Der CSU-Vorsitzende und damalige Bundesfinanzminister Waigel stellt sich ausdrücklich hinter „die Ankündigung des Vorsitzenden der CSU-Landtagsfraktion, Alois Glück, einer Gesetzesinitia-
tive zum Erhalt der Kruzifixe in den Klassenzimmern. Auch Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber und die Bayerische Staatsregierung haben die volle Unterstützung der CSU in ihren Bemühungen, die Folgen des Urteils möglichst gering zu halten.“ Der CDU-Politiker Norbert Geis meint, es müs-
se erlaubt sein, „über die Verbindlichkeit einer solchen Entscheidung für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden nachzudenken.“ Das heißt, Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichts für fallweise unverbindlich halten zu wollen. Eine Flexibilisierung der Rechtsprechung wäre das schon, vielleicht könnte man es mit der Privatisie-
rung des Verfassungsgerichts verbinden?

All dies bedeutet nicht weniger, als das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes – und damit die Verfassung selbst – ignorieren oder sabotieren zu wollen. Hier werden durch staatliche Spitzen-
funktionäre und durch einzelne Kirchenfürsten zuerst Religion und Politik, Staat und Kirche ver-
mengt und damit einer der zentralen abendländischen Kulturgüter und zivilisatorischen Werte bestritten und beschädigt. In einem zweiten Schritt werden dann die eigenen religiösen Empfin-
dungen nicht nur als verfassungs- und staatsrechtlich relevant betrachtet, sondern der Verfassung sogar noch übergeordnet. Das Grundgesetz meint nicht mehr was es besagt, und das Verfassungs-
gericht hat sich nicht mehr am Buchstaben und Geist der Verfassung zu orientieren, sondern an den christlichen Werten einiger deutschen Mullahs. Die Verfassung wird unter die Kuratel eines christlichen Vorbehalts gestellt.

Zugleich haben zahlreiche der Kritiker es unternommen, nicht nur das Grundgesetz religiös umin-
terpretieren oder aber missachten zu wollen, sondern zugleich den unklaren Definitionskonsens über die „westlichen Werte“ zu verschieben. Früher schien eine Übereinstimmung darin zu beste-
hen, dass die europäische Kultur aus sehr verschiedenen Quellen gespeist wurde und wird, aus den unterschiedlichsten christlichen Kirchen, Bekenntnissen und Sekten, aus der jüdischen Tradition und Religiosität, aus der Aufklärung, non-religiösen und atheistischen Denkrichtungen, aus Ideo-
logiefragmenten der römischen und griechischen Antike, sowie aus jahrhundertelangen Einflüssen aus dem islamischen Kulturraum, die seit der Einwanderung von Millionen Muslimen noch einen andere Qualität gewonnen hat. Dieser Konsens wird von den Mullahs jetzt aufgekündigt. Jetzt hören wir mit Erstaunen, dass das Abendland tatsächlich immer noch für „christlich“ gehalten wird. Wir vernehmen mit Schrecken, Erstaunen oder Belustigung, dass einzelne Stimmen aus Par-
teien, Kirche und Publizistik es nunmehr gar fertig bringen, sogar die bundesdeutsche Staatsgrün-
dung zu einem religiösen Akt umzudefinieren. „Am Anfang der Bundesrepublik stand das Bekennt-
nis zu Gott, zum Christentum und damit zum Kreuz“ – so hatten wir oben bereits eine Zeitung zi-
tieren müssen. Auch zahlreiche Politiker und Kirchenleuten haben auf diese Weise die Gründung der Bundesrepublik Deutschland in den Rang einer christlichen Kulthandlung erhoben. Die bun-
desdeutsche Gesellschaft wird plötzlich zur christlichen Wertegemeinschaft, und alle ihrer ethi-
schen Wurzeln außer der christlichen werden gekappt, zumindest bestritten. Bei uns tragen die Fanatiker Nadelstreifen. Robert Leicht hatte in der Zeit eher beiläufig formuliert, dass wir „in einer bis auf die Knochen säkularisierten“ Gesellschaft lebten. Bis zur Debatte um das Kruzifix-Urteil hätte man das wirklich meinen können.

Säkularität?

Die Debatte um das Kruzifix-Urteil ist eine Debatte um das Grundverständnis dieser Gesellschaft und um den Grad ihrer Säkularität. Dabei ist es nicht nur besorgniserregend, in welcher Breite und Schärfe die säkularen Traditionen und Werte Europas von einem christlichen Populismus beiseite-
gewischt werden. Noch bestürzender ist die Erfahrung, wie passiv und defensiv sich liberale, säku-
lare oder linke Politiker und Publizisten verhalten. Viele beteiligen sich überhaupt nicht an der Dis-
kussion und überlassen den Verteidigern des Abendlandes das Feld. Andere Liberale, wie der sich gelegentlich bis ins Kirchenfeindliche säkular gebende Spiegel , Thomas Schmid in der Wochen-
post
oder Ulrich Greiner in der Zeit machen nicht die Säkularität zum Thema, sondern beteiligen sich an der Übung, das christliche Symbol des Kruzifixes in ein „Symbol unserer Kultur“ umzuin-
terpretieren (Greiner) oder gar „nichtchristliche Eiferer“ und „Anti-Kreuz-Kreuzzügler“ zu ent-
decken, die „der Mehrheit ihren Willen aufzwingen“ wollen (Schmid). Zwar gibt es nach einigen Schrecksekunden, die Tage dauern, auch Stimmen der Vernunft (so Äußerungen von Ministerprä-
sident Johannes Rau, dem Grünen-Abgeordneten Volker Beck, Frau Hamm-Brücher, der Bischöfin Maria Jepsen), aber sie bleiben Ausnahmen. Die Debatte findet nicht wirklich statt, oder genauer, sie wird fast nur von einer Seite geführt.

Dabei gäbe es nicht nur genug Argumente zur Abwehr der Zumutung einer religiösen Uminterpre-
tation von Staat und Gesellschaft. Es gibt auch noch genug zu tun, um die in der Bundesrepublik im Prinzip vorhandene Trennung von Kirche und Staat konsequent zu vollenden. Wir schleppen noch immer historische Restbestände einer Vermischung von Politik und Religion, von Staat und Kirche herum, die endlich überwunden werden sollten. Das Recht der Kirchen und aller anderen Religionsgemeinschaften, ihren jeweiligen Glauben aktiv und auch öffentlich zu leben, muß gesi-
chert bleiben. Aber ebenso konsequent wie staatliche Einmischungen in religiöse Angelegenheiten zu unterbinden sind, muss auch die religiöse und kirchliche Instrumentalisierung staatlicher In-
stanzen zu religiösen (also nicht-staatlichen) Zwecken beseitigt werden. Staat und Kirche müssen endlich auch bei uns säuberlich und scharf getrennt werden. Dieser eigentlich selbstverständliche Gesichtspunkt, der sich aus der Tradition der europäischen Aufklärung ableitet, wurde kaum in die Debatte einbezogen. Diese Schwächlichkeit liberaler und säkularer Intellektueller ist wohl noch weit schlimmer, als die ideologischen Anmaßungen des christlichen Populismus. Sehr schnell zeigen sich die Folgen der argumentativen Abstinenz.

Der Rückzug

Der Verlauf der Debatte treibt eine bemerkenswerte Blüte, eine Art Sumpfblüte. Der Vorsitzende Richter des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichtes, Johann Friedrich Henschel, hält es seit der Urteilsverkündung für seine Aufgabe, in einer ganzen Serie von Stellungnahmen und Inter-
views die Entscheidung zu erklären, zu begründen und zu interpretieren. Dabei beschwert er sich einerseits über die Angriffe gegen das Gericht und findet dabei durchaus kräftige Worte. „Die Union wünscht sich offenbar ein Bundesverfassungsgericht, das stets in ihrem Sinne entscheidet. Dann kann sie das Gericht gleich abschaffen, dann wird sie nur noch Hampelmänner als Richter finden, aber keine gestandenen Leute.“

Das sind aber Rückzugsgefechte, die den Rückzug kaum verhüllen. Schon in einem Interview des Stern erwähnt Henschel das grundsätzliche Verbot von Kruzifixen in staatlichen Schulen (die keine Bekenntnisschulen sind) nicht mehr. Die Kampagne zur Rettung des Abendlandes zeigt Wirkung, der Richter weicht zurück. Und kurze Zeit später lässt er eine kleine Bombe platzen. Henschel stellt bedauernd fest, dass man ihn und die Entscheidung seines Gerichtes leider missverstanden habe. Sprachliche Schwächen bei der Formulierung seien daran Schuld. „Wir haben in Leitsatz 1 eine missverständliche Formulierung gewählt“, erkennt der Richter nun. „Wir hätten richtigerweise formulieren müssen: ‚Die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes’.“

Man ist gerührt. Plötzlich soll nicht mehr die Anbringung der Kreuze in staatlichen Schulen, son-
dern nur deren Anordnung durch den Staat verboten sein – was ja die Anbringung durch Eltern- oder Lehrerentscheidung gestatten würde. Mit einem Streich verdreht der Richter die Entschei-
dung ins Gegenteil: während nach dem Beschluss seiner Kammer Kreuze in staatlichen Schulen prinzipiell gegen das Grundgesetz verstoßen, ist das jetzt nicht mehr der Fall. Ein Interview macht’s möglich. Und die Ursache liegt in einer „missverständlichen Formulierung“ in einem Leitsatz. Soll man lachen oder Mitleid haben mit diesen Richtern, die sich selbst Inkompetenz bescheinigen, denen erst nach vollen elf Tagen aufgefallen sein will, dass sie wohl das Gegenteil von dem beschlossen haben, was sie eigentlich meinten? Aber halt. Will uns der Richter nur nar-
ren? Kann es sich wirklich um eine „missverständliche Formulierung“ handeln, wenn der Kern der Entscheidung praktisch umgekehrt wird? Wenn dieser vorgebliche Irrtum – das Fehlen zweier entscheidender Worte – trotz des Trubels und aller Kritik fast zwei Wochen unentdeckt bleibt? Außerdem: Henschel bezieht seine Aussage ausdrücklich nur auf den „1. Leitsatz“ des Urteils (der diesem vorangestellt ist). Nun ist es aber so, dass derselbe Satz nicht nur im Leitsatz, sondern auch ganz vorn in der Presseerklärung zum Urteil und auf Seite 32 der Urteilsbegründung zu finden ist. An drei Stellen derselbe Irrtum, derselbe Schreib- oder Formulierungsfehler? Wohl kaum. Auf der Seite 32 finden wir zusätzlich auch den Satz: „Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die danach [nach früheren Entscheidungen des Gerichts in ähnlichen Fällen] gezo-
gene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule.“ Auch im weiteren Verlauf des Textes geht es um „die Anbringung des Kreuzes“, die verboten sei, und nicht um Bedingungen oder bestimmte Regelungen der Anbringung.

Leitsatz 1 kann kaum eine „missverständliche Formulierung“ der Entscheidung sein, da dieselben Formulierung mehrfach auftaucht und der Argumentationsweise des Urteils voll entspricht. Die nachgereichten Interviewäußerungen des Verfassungsrichters Henschel tragen kaum zur Klärung bei. Erstens ist das Urteil selbst glasklar und unmissverständlich – genau diese Deutlichkeit ist ja der Grund für die allgemeine Aufregung. Zweitens wird durch die Interviews das Urteil „korri-
giert“, durch Uminterpretation ins Gegenteil verkehrt. Private Äußerungen eines Richters als Korrektiv eines Urteils des Verfassungsgerichts, und das Ganze hinter dem Schleier der Erläute-
rung „missverständlicher Formulierungen“ – absurder kann man weder mit Verfassungsrecht, noch mit der substantiellen Frage der Säkularität umgehen. Der bayerische Staatskanzlei-Minister Erwin Huber stellt süffisant fest, er begrüße die „Selbsterkenntnis und Selbstkritik“ des Richters Henschel.

Und nun?

Die Welle demonstrativer Hysterie um ein höchst banales Urteil des Verfassungsgerichtes ist lehr-
reich und hätte vielleicht sogar nützlich sein können. Sie demonstriert, dass es mit der Säkularität, auf die viele Intellektuelle, Journalisten und Politiker so gern öffentlich stolz sind, nicht weit her ist. Sie zeigt, dass „westliche“ und abendländische Grundwerte wie die Trennung von Kirche und Staat und die Bedeutung der Säkularität bei großen Teilen der Bevölkerung und der Eliten, auch in den Kirchen, nur oberflächlich verankert und kaum hauttief eingedrungen sind. Wir haben lernen können, wie ähnlich die deutschen Mullahs ihren nahöstlichen Kollegen sind. Und wir haben eben-
falls gelernt, wie wenig Widerstand die Öffentlichkeit und die Politik diesen entgegensetzt. Dass ein Verfassungsgericht sein Urteil wegen der Welle der Hysterie bekennender Abendländler per Inter-
view zurücknehmen möchte, diese Erfahrung ist nicht schön, aber erhellend. Es zeigt wie sinnvoll und wichtig es wäre, auch bei uns Politik und Religion zu trennen.

Wir haben von deutschen „Mullahs“ gesprochen und versucht, damit das gängige Vorurteil einmal umzukehren: dass nämlich Muslime – von der Aufklärung unbehelligt – Politik und Religion unzu-
lässig vermischten, während im Abendland beides fein getrennt sei. Natürlich ist dieser Vergleich doppelt schief, und doppelt ungerecht. Einmal natürlich unterstellt er einer Reihe von deutschen Politikern eine religiöse Absicht, wo vielleicht doch nur Populismus, Demagogie und Eigenprofi-
lierung die Antriebsfedern sind. Andererseits gibt es natürlich zahlreiche Mullahs und Imame, die in fast spiegelbildlicher Weise den religiösen Abendländlern entsprechen und deren Beschränkt-
heit der einiger der oben zitierten Geistesgrößen durchaus entspricht. Aber es gibt eben auch das Gegenteil: Imame und Mullahs, deren Offenheit und Aufgeklärtheit sich wohltuend von der oben skizzierten Debatte abheben würde. Was wir haben zeigen wollen ist, dass viele Politiker oder Kir-
chenfürsten auf eine panische Art auf Säkularisierung reagiert haben, die ihrem eigenen Bild vom Islam mehr entspricht, als unbedingt diesem selbst. Und dass auch die deutsche Gesellschaft mit ihrer Religiosität und dem Prozess der Säkularisierung noch lange nicht zurechtkommt.

Jochen Hippler 2000


www.jochen-hippler.de

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Religion

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