Materialien 1995

Gebären für die Nation?

Am Wochenende vom 21. auf den 22. Oktober waren die Lebensschützer von“ Aktion Leben e.V.“ wiedermal im Westend aktiv. Sie verteilten Flugblätter und klemmten sie unter die Scheibenwischer von Autos. In dem Flugblatt denunzieren sie einen im Westend praktizierenden Arzt als Kindermörder.

Manchmal fragten wir uns, ob sie, die Abtreibungsgegner so wichtig sind, um immer wieder erwähnt zu werden. Doch ein Blick in andere Länder z.B. auf die USA, wo sie auch bewaffnet vorgehen (mehrere erschossene Ärzte, militante Blockaden vor den Kliniken …), zeigt, wie mörderisch der Lebensschutz (die Abtreibungsgegner verstecken sich hinter dem Begriff Lebensschützer) sein kann. Deshalb haben wir in den WESTEND NACHRICHTEN uns des öfteren mit diversen Abtreibungsgegnern beschäftigt. Unter anderem organisierten wir eine Informationsveranstaltung am 28. Januar 1994 unter dem Motto „Lebensschützer und Rechtsextremismus“. Diese Veranstaltung und unsere Veröffentlichungen machten immer wieder die Verquickung von konservativ-klerikalen und rechtsextremen Lebensschützern deutlich.

Die katholische „Aktion Leben e.V.“, eine von über 100 Lebensschützerorganisationen, ist ein Beispiel für dieses schwarz-braune Gebräu. Ein Blick in ihre Schriften zeigt die Geisteshaltung:

„Schwerste Folge der Abtreibung: Genocid“ also Völkermord?

Die Bundesrepublik Deutschland hat heute die weitaus niedrigste Geburtenrate der Welt. Allein um den Bestand einer Nation auf gleicher Höhe zu halten (Nullwachstum), müssen die verheirateten Frauen des Volkes mehr als zwei Kinder gebären … Die verheirateten Frauen in Deutschland aber gebären im Durchschnitt nur noch ein Kind, wenn nicht schon weniger. Dies ist eine wahre Katastrophe. Denn unserem Volk droht schon innerhalb kürzester Zeit bevölkerungsmäßig ein totaler Zusammenbruch (Bevölkerungsimplosion).“

Jetzt wissen wir es, Frauen sind nicht nur die Mörderinnen von einzelnen, sie sind viel mehr die Mörderinnen der ganzen Nation. Zu wenige Frauen gebären zu wenig (meinen die). Und was ist, wenn Frauen zu wenig Kinder kriegen? Sie begehen damit Völkermord. Was? Sie dachten bisher im Zusammenhang mit Völkermord an die Nazi-Herrschaft? Jetzt werden wir ein besseren belehrt.

Aber die Frauen sind vermutlich in ihren Augen schlimmer als die faschistischen Mörder. Sie gefährden mit ihrem Tun die eigene Nation. Um die Nation soll es sogar noch schlimmer stehen als 1945, wo doch die Katastrophe groß genug war: „Die Entscheidung liegt in unsrer Hand. Die Katastrophe von 1945 war schlimm. Die jetzige scheint schlimmer.“

Sie sind gegen Abtreibung (Schutz des ungeborenen? Lebens!) und bezeichnen den Zusammenbruch des deutschen Faschismus, der für Millionen von Menschen in ganz Europa Befreiung und Überleben bedeutete, als „Katastrophe“. Die Katastrophe war nicht die millionenfache Vernichtung von Menschen durch die Faschisten, sondern die Beseitigung dieser faschistischen Herrschaft. Die faschistischen Vernichtungsmethoden (Holocaust, Völkermord) setzen sie mit Abtreibungen gleich. Mit diesem ungeheuerlichen Vergleichen versuchen die Lebensschützer zu verschleiern, warum es eigentlich geht: um die Beseitigung des Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Frau über ihren Körper und um die Verfügbarkeit der weiblichen Gebärfähigkeit für die Interessen der Herrschenden. Auffallend in ihrem Flugblatt ist auch die ausschließliche Bezugnahme auf „deutsche“ Frauen.

Gleichzeitig aber werden auch die Taten des deutschen Faschismus verharmlost. (Übrigens ist der Vergleich mit faschistischen Vernichtungsmethoden auch bei den Tierschützern sehr beliebt, die für ihr Engagement für Hühner in Legebatterien z.B. gerne den KZ-Vergleich benutzen, wofür auch ihnen auf den Kopf gehauen gehört.)

Wer ein solches Geschichtsbild hat, wer abtreibende Frauen in die Nähe des Faschismus rückt, dem geht es darum, dass Frauen ausschließlich eine „biologische Funktion“ erfüllen: das Gebären.

Um die Nation zu stärken.

Die Zitate sind allesamt aus einem Faltblatt, das an diesem besagten Wochenende verteilt wurde. Dieses Faltblatt heißt „Leben oder Tod“ und besteht aus Darstellungen zerstückelter Föten. Nach Angaben der bundesweiten Frauenkoordination gegen den § 218 ist dieses Flugblatt seit 1986 im Umlauf und ist von den amerikanischen Abtreibungsgegnern übernommen.


Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthaler Höh 25 vom November 1995, 6 f.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Religion

Referenzen