Materialien 1996

SektiererInnen contra Nimbys

„Reue ist was für Katholiken … Revolutionäre bereuen nicht. Sie üben Selbstkritik, das ist etwas anderes. Ich habe die meine geübt, und damit hat es sich.“
(Alejandro Mayta)

Am Samstag, 27. April, protestierten 40.000 Menschen aus dem Gewerkschaftsumfeld der HBV in Bonn gegen die Ladenschlusszeiten. Allein in den Stadien der Bundesliga verfolgten rund 290.000 Fußballfans die Spiele live. Bundesweit gedachten etwa 20.000 AtomkraftgegnerInnen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor zehn Jahren und protestierten so gegen die deutsche Atompolitik. Vor diesem aufschlussreichen statistischen Hintergrund nimmt sich die bayerische Posse des Anti-Atom-Protestes umso lächerlicher aus. Denn in München fanden zwei getrennte Demonstrationen statt, die aneinander vorbei und unversöhnlich den angesichts des FRM II-Baus in Garching auch hier sehr notwendigen und wichtigen Gegenstandpunkt zerfransten. Auch wer den TeilnehmerInnen an der linken Demo von der „Zusammen kämpfen“-Gruppe aus dem Infoladen in ihrem kritischen Nachbereitungspapier nicht soweit folgen will, die Entscheidung des linken TrägerInnenkreises „Aktionsbündnis 10 Jahre Tschernobyl“ als „sektiererisch“ zu bezeichnen, wird ihr doch zustimmen müssen, wo sie von einem „groben politischen sowie taktischen Fehler“ sprechen.

Schreiten wir also zur Selbstkritik: Mag einiges am Verhandlungsgeschick, oder besser -ungeschick einzelner gelegen haben, das Ergebnis war zum Schluss ein weitgehend unversöhnlicher Dissens über Forderungen, Absprachen und Bedingungen, der beide Organisationsgruppen trennte. Zum besseren Verständnis seien vielleicht noch mal ein paar Punkte hervorgehoben: Nach einem bundesweiten Koordinationstreffen hatte das hiesige Umweltinstitut für München die Organisation der Aktivitäten übernommen. Schon recht bald, entstand der Eindruck, dass der sich bildende TrägerInnenkreis (Neben dem Umweltinstitut dabei: Bund Naturschutz, Grüne, Mütter gegen Atomkraft, Garchinger Anti-Atom-BI, Mahnwache Gundremmingen, Münchner Friedensbündnis, usw. und eben auch ÖDP) den wir vorsichtig den bürgerlichen nennen wollen, von Anfang an versuchte, allzu linke Positionen auszugrenzen. Wahrscheinlich hielten sie sich selbst für links genug und wollten durch eine Zusammenarbeit mit den politischen Schmuddelkindern ihre rechten Bündnispartner nicht verprellen. Die linken Gruppen um das Anti-Atom-Bündnis (darunter der AK Atomscheiß der Antifa Rosenheim, AStA FU Berlin, AStA PH der Uni Köln, Autonome Zelle Erich Mühsam, Bund Deutscher PfadfinderInnen Nürnberg, KJR Ebersberg, Volxkjno-Gruppe Ebersberg, PDS, LaLM und Ökologische Linke) weigerten sich nämlich strikt mit der ökoreaktionären ÖDP zusammenzuarbeiten. Diese Weigerung geht auf eine Resolution der bundesweiten Anti-AKW-Bewegung vom 19. März 1994 zurück, in der es heißt: „Die Anti-AKW-Bewegung bekämpft die Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur, wir verknüpfen die soziale mit der ökologischen Anti-AKW-Bewegung und bekämpfen die Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur, wir verknüpfen die soziale mit der ökologischen Frage. Jede Zusammenarbeit mit ökofaschistischen, rassistischen und sexistischen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen lehnen wir ab.“

Soweit, so gut. Ob es Gründe geben kann, solche eindeutigen Beschlüsse aus taktischen Gründen hintanzustellen, müsste diskutiert werden. Jedenfalls wollten die TrägerInnen der linken Demo diese Taktik nicht, nach dem Motto: „Lieber isolieren als das Gesicht verlieren!“. Der andere TrägerInnenkreis verwies im Gegenzug auf die PDS, die Ökologische Linke und die LaLM, die Linke alternative Liste München, um seinerseits eine Zusammenarbeit in Frage zu stellen. Als „goldene Brücke“ bezeichneten sie den Vorschlag, politische Parteien generell nicht in den Vorbereitungsgruppen zuzulassen. Was aus diesem Vorschlag wurde, konnte jedeR LerserIn auf dem bürgerlichen Demoflugblatt sehen, auf dem unübersehbar das Emblem von Bündnis 90/Die Grünen prangte. Wie auch immer, zwei Auftaktkundgebungen, zwei Demozüge also, aber – auch von der bundesweiten Koordinierung als Mindestkonsens so empfohlen – eine gemeinsame Abschlusskundgebung wurde geplant.

Nebenher lief dann noch ein wirklich oberpeinlicher Kleinkrieg mit den bundesweit einheitlichen Plakaten, den dazugehörigen Plakatüberklebern, gemeinsamer oder getrennter Mobilisierung, mit den behördlichen Formalitäten beim KVR usw. Ein letzter Versuch, den Konflikt zu schlichten und wenigstens eine gemeinsame Abschlusskundgebung hinzukriegen, scheiterte nicht nur an den horrenden Geldsummen, die der größere TrägerInnenkreis von den „Sektierern“ forderte (über 5.000 Mark für Mobilisierungskosten und Mitbenützung der Redetribüne und der Anlage am Odeonsplatz: auch hier darf hinter der Berechnung Kalkül vermutet werden), sondern auch daran, dass die Gruppen und Parteien um das Umweltinstitut beschlossen hatten, keine gemeinsame Sache mit den Abtrünnigen zu machen. Als Unterhändler der bürgerlichen Seite bedauerten Rudi Remm vom Bund Naturschutz und Rudi Ammansberger diese Entwicklung, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich selber auch als Linke verstünden und es für fatal hielten, dass sich die ohnehin geschwächte Linke derart spalte und isoliere. Im Bezug auf Auseinandersetzungen über mögliche RednerInnen beider Seiten bei der geplanten Abschlusskundgebung betonten sie, auch sie bekämen Magengrimmen beim Gedanken an den unsäglichen BUND-Chef Hubert Weinzierl und die Siemens-Laudatorin und Münchner grüne Bürgermeisterin Sabine Csampai, doch ihnen gehe es um den Anti-Atom-Protest und darum, dass es nur ganz breiten Bündnissen wie in Wackersdorf gelingen könne, echte Relevanz zu erlangen und so vielleicht tatsächlich etwas verhindern zu können.

Hier scheiden sich aber die Geister ganz grundsätzlich: Einer linken Politik kann es nicht nur um politische Taktik und bündnistheoretisches Machtkalkül gehen. Auch wenn linke politische Gruppen sich zur Zeit kaum aufraffen können, über die eigenen Perspektiven zu diskutieren, müssen Sie doch immer für die grundlegende, vielleicht revolutionäre Veränderung der Gesellschaft arbeiten, wenn sie ihr Selbstverständnis ernst nehmen. Und es fragt sich dabei ganz entschieden, was man sich von Elterninitiativen erwartet, die sich bis heute in ihrer „Ich und meine Kinder“-fixierten Vernageltheit nicht über ihre persönlichen Entbehrungen während der Tschernobyl-Wochen beruhigen können und die ihrer Betroffenheit und Angst in schwer gruppendynamischen Workshops Farben zu geben sich nicht zu doof sind? Was erwarten wir von den Grünen noch, da auch bei diesen Musterschülern der Marktwirtschaft der Anti-Atom-Konsens bröckelt? Was von einem Bund Naturschutz, dessen Vorsitzender mit antisozialer Rhetorik und ökorassistischen Untergangsszenarien in seinen Äußerungen nicht spart? Was soll mensch mit den Betroffenheitskundgebern anfangen, denen die Zusammenhänge von Atomwirtschaft, Neoliberalismus und Globalisierung, Marktwirtschaft und Imperialismus wurscht sind oder die sie in Ewigkeit Amen nicht raffen werden? Wäre Garching dann verhindert, hätten diese ganzen Nimbys (Not in my backyard) ihren spießigen Hinterhof sauber und könnten zur Tagesordnung der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung zurückkehren. Sollte man vor diesen „Politpappnasen und Ökonasenbohrern“ das Feld räumen?

Der linke TrägerInnenkreis hat viele Kröten geschluckt und ließ sich noch weitere auf einem halbherzig gereichten Tablett servieren. Darauf saß der Ochsenfrosch der Finanzierung und ihn hinunterzuwürgen hatten die VorbereiterInnen keine Gelegenheit mehr. Es kam also, wie es kommen musste. Zwei Demozüge bewegten sich vom Rotkreuzplatz, beziehungsweise vom Orleansplatz kommend zum Odeonsplatz, beziehungsweise zum Sendlinger Tor und ließen die Bayern erscheinen, als was sie in der ganzen Republik gelten, nämlich ziemlich seltsame Trottel.

Den KritikerInnen von „Zusammen kämpfen“ geht es bei ihrer Forderung nach einer gemeinsamen Demo aber keineswegs um einen Konsens mit den „betroffenen Eltern“ und den anderen Bürgerlichen, sondern darum, dass man als Teil in deren Demo für Aufruhr und Kritik hätte sorgen und Redner wie Weinzierl hätte stören können. Das ist sicher richtig. Richtig ist auch, dass die Spaltung für die Bullen natürlich ein gefundenes Fressen war, sie hatten ihre kaum fünfhundert Störenfriede schön übersichtlich in einer Reihe und konnten mit uns mal wieder machen, was sie wollten. Das wurde besonders am Sendlinger Tor deutlich, wo sich ein derart groteskes Schauspiel zutrug, dass es jedem einzelnen überlassen blieb zu lachen oder zu weinen. Während nämlich diese dramaturgisch in den frühen 80ern zurückgebliebenen Clowns ihre unsägliche Atomtod-Performance runterhampelten und brüllten und sich am Boden wälzten, griff sich die Polizei einzelne Leute am Rande der Kundgebung. Auf einmal raste der größte Teil der verbliebenen etwa dreihundert KundgebungsteilnehmerInnen den Greifern nach und stand dann machtlos vor den Gefangenentransportern. Währenddessen zuckten und brüllten die Schauspielerlein in der gespielten, reichlich abgeschmackten Agonie der Strahlenopfer. Und der Rest stand ratlos, fassungslos, ahnungslos oder tatenlos – war wenigstens was los! – in schütterer Verteilung auf dem Platz. Ein sehr junges Pärchen, das sich wohl verirrt hatte oder auf dem Union Move wähnte, verteilte Blumen an die Kettenhunde des USK, dass man hätte in den Asphalt beißen wollen. Für den Staatsschutz-Chef Kohl, der diese köstliche Massenszene von einem Balkon aus mit dem Fernrohr beobachtete, muss es ein großartiger Anblick gewesen sein, wie seine linken „Spezl’n“ sich mal wieder selber außer Gefecht setzten. Aber auch für Leute im Gewühle könnte dieses grandiose Finale den Gang auf eine politische Vormittagsveranstaltung gelohnt haben.

kf


Stadtratte 35 vom Sommer 1996, 16.

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Atomkraft

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