Materialien 1996

Ein bisschen Polizei-Terror, ein wenig Willkür

Orleansplatz

Sie begann, wie alle Demos beginnen: Zum zehnten Jahrestag von Tschernobyl versammelten sich am 27. April etwa 500 Menschen zur linken Demo auf dem Orleansplatz. Und wäre da nicht unsere eifrige Polizei und ihr Unterstützungskommando (USK) gewesen, die ein bisschen Span-
nung und Abwechslung in die ganze Sache brachten, hätte sie bestimmt genauso ereignislos ge-
endet wie alle anderes Demos auch.

Wir gestehen: Es war ein bisschen zu langweilig auf der Kundgebung. Da wurde gerade mal zur Schienendemontage, ansonsten aber zu keinerlei Gewalt aufgerufen. Die Redner und Rednerinnen kritisierten lediglich so öde Dinge wie den Einsatz von atomwaffenfähigem Uran im Forschungs-
reaktor FRM II, forderten die sofortige Stillegung aller Atomanlangen, wandten sich gegen die Alli-
anz von Staat und Atomkapital und die herrschende Weltwirtschaftsordnung – Gähn.

Die Ordnungshüter langweilten sich, dafür haben wir Verständnis. Sie wurden ja schließlich extra angekarrt für diesen speziellen Auftrag. Und um sich und den angeödeten Demonstranten ein bisschen Abwechslung zu verschaffen und um etwas Stimmung in die lahme Demo zu bringen, wollten ein paar eifrig USK-ler einen besonders lahmarschigen Typen ein wenig aufheitern. Sie beschäftigten sich ganz besonders intensiv mit ihm; kreisten ihn ein, liefen mal vor, mal hinter ihm. Ein kleiner Stoß in die Rippen hat ja schon oftmals zur Anhebung der Stimmung beigetragen. Der junge Mann jedoch weigerte sich aus bisher unbekannten Gründen, an dem Spaß teilzuneh-
men und forderte die Scherzkekse auf, aufzuhören. Das ging dann doch ein bisschen weit. Unsere grünen Freunde nahmen den Muffel in ihre Mitte, trugen ihn in eine Seitenstraße und zeigten ihm mal, was richtiger Humor ist. Ein anderer Demonstrant wagte es, den Spaß zu stören, indem er mit dem Stoff seiner roten Fahne das Mützchen eines Ordungshüters berührte. Nicht sehr witzig! Ab in die Nebenstraße zur Kurzlektion in Sachen Humor. Auch nicht so spaßig fanden die USK-ler einen aufmüpfigen Demonstranten, der unbedingt wissen wollte, warum der Fahnenträger kurz darauf verhaftet wurde. „Bist du überhaupt Deutscher?“, rief der eifrige Polizist laut aus, „Kannst du überhaupt verstehen, was ich dir sage?“ Lieber einmal zuviel gefragt als sich mit einem Ausländer unterhalten zu haben. Eine andere neunmalkluge Demo-Teilnehmerin wollte dummerweise eine Festnahme verhindern – wie anders sollten sich die Polizisten gegen die ca. 1,55 Meter große und 45 Kilo schwere Monster-Frau wehren als mit einem gezielten Fausthieb ins Gesicht? Provoziert wurden die Gendarmen auch von den unsäglichen Seitentransparenten-Trägern: Wie gut können sich Jugendliche ohne Kapuze, Brille und Schal allein mit diesem Transparent vermummen! Also weg damit, und wenn es dem Wohle der Menschheit dient, auch mit Schlägen und Tritten – die Jugendlichen wurden ja oft genug gewarnt.

Doch das war noch lange nicht alles: Übel mitgespielt wurde der Polizei auch von einigen Flug-
blatt-Verteilern. Die Halunken waren so dreist, zur Verwirrung erst einen Stapel harmloser Flugis zu verteilen, bevor sie darunter dann ein einzelnes Exemplar des Schienendemontage-Aufrufs in Händen hielten – ihre billige Ausrede war, sie hätten das Flugi zugesteckt bekommen. Ein schlech-
ter Scherz, denn jeder weiß, dass sich Einzel-Exemplare besonders gut verteilen lassen. Klar, da waren unsere Gendarmen quasi gezwungen, einzugreifen. Einer der drei Demonstranten hatte be-
sonderes Glück: Die Polizei ließ ihm eine Extra-Spaß-Lektion zukommen. Drei USK-Spezialisten nahmen ihn vorläufig fest, hängten ihm eine Identitäts-Nummer um und fotografierten den Schwerverbrecher auf offener Straße. Besonders die Passanten hatten eine Menge Freude an dem Spektakel. Während die Schurken auf dem Polizeipräsidium in der Ettstraße erkennungsdienstlich behandelt wurden, wollten die Polizisten retten, was noch zu retten war und durchsuchten derweil schon mal die Wohnungen von fünf Demonstranten. Natürlich, um entlastendes Material zu sam-
meln. Manche dieser humorlosen Steinewerfer verstanden den Witz hinter der ganzen Aktion wieder mal nicht und erwägen nun, Strafanzeige und Dienstaufsichtsbeschwerde zu stellen.

Das Unterstützungskommando gab jedoch nicht auf: Bis spät abends fuhren sie durch München, immer auf der Suche nach einem netten Demonstranten, den sie vielleicht schon auf der Demo kennen gelernt hatten.

Die Bilanz eines lustigen Tages: Sechs Verhaftungen auf der linken Demo, vier auf der anderen, ein paar Verletzte und ein paar Leute, die sich auf der nächsten Demo bestimmt gerne mit der Polizei intensiv über Humor-Kritik auseinandersetzen werden.

(lina)


Münchner Lokalberichte 10 vom 9. Mai 1996, 9.

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Atomkraft

Referenzen