Materialien 1996
Leserbrief zum „Räte“-Titel
der Januarausgabe der Westend Nachrichten
Nein, liebe Leute,
der Rätekommunismus wird in München auf absehbare Zeit nicht wieder ausbrechen. Vielmehr haben die im Mai 1996 erstmals gewählten Bezirksausschussmitglieder ihre Mandate noch 5 Jahre und drei Monate sicher (während sie in einer direkten Demokratie ja jederzeit abberufen werden könnten) und müssen sich schon deshalb die Köpfe über so bedeutende Dinge zerbrechen wie, unter welcher Bezeichnung sie die verbleibende Zeit rumkriegen wollen.
In Eurem Nachbarbezirk verlief die Diskussion etwas anders als bei Euch: Bei uns wollte die CSU-Fraktion geschlossen künftig als „Stadtteilrat“ firmieren, während der SPD-Fraktionsvorsitzende großmütig öffentlich den „Fraktionszwang“ (jaja, so etwas gibt es bei den großen Parteien ‘runter vom Bundestag bis in die BA’s – noch ein kleiner Unterschied zum Rätemodell …) aufhob und die Abstimmung „freigab“. Daraufhin stimmte ein Drittel der Sozialdemokratinnen und -demokraten gemeinsam mit den beiden Frauen von David gegen Goliath und der Hälfte der Grünen gegen diesen Änderungsvorschlag. Auch ich gehörte zu den Gegnern dieses Vorschlags, die jedoch bei der Abstimmung unterlagen. Der einzige vernünftige Grund, der überhaupt für ein Ablegen der Bezeichnung „Ausschuss“ spricht, nämlich deutlich zu machen, dass die Mitglieder im Gegensatz zu früher nicht mehr von den Parteien bestimmt, sondern eben (wenn auch über Parteilisten) gewählt sind, sollte meines Erachtens nicht zu Namensgebungen veranlassen, die völlig falsche Erwartungen an die Kompetenzen des Gremiums erwecken können. Deutlicher: Bezirksausschüsse, deren Mitglieder bei ihren Sitzungen immer schrecklich viel zu reden, im Endeffekt aber nix zu sagen haben, tun sich und Menschen, deren Belange sie vertreten sollen, keinen Gefallen, wenn sie sich plötzlich formal zum „Stadtteilrat“ erheben!
Wie die Realität aussieht, bekamen wir unlängst im Ausschuss an die hiesige Bürgerversammlung vor Augen geführt (und, nachdem wir zumindest vom BA Hadern bereits wissen, dass der Ablauf dort der gleiche war, wird es wohl auch der Schwanthalerhöh’ nicht anders ergehen): Während die dort vorgebrachten Anträge bisher immer mit einer Stellungnahme des zuständigen städtischen Referats zur Beratung in die BA’s zurückkamen, mussten wir mit Verblüffung feststellen, dass zumindest im Bereich Verkehr (die anderen Referate haben noch gar nicht reagiert), der fast 2/3 der vorgetragenen Anliegen ausmachte, sämtliche Vorschläge am BA vorbei entschieden wurden – und zwar ausnahmslos negativ. Begründet wurde dies auf Nachfrage ausgerechnet mit den erweiterten Kompetenzen der BA’s: danach sollen künftig nur noch die mit Entscheidungs-, nicht mehr die mit Unterrichtungs- bzw. Anhörungsrecht verbundenen Bürgeranliegen dorthin zurücküberwiesen werden. Zur Erinnerung: Der in der Satzung verankerte Entscheidungskatalog für Bezirksausschüsse führt ca. zweihundert Themengebiete auf – davon dürfen die BA’s in gerade mal dreiundzwanzig uneingeschränkt entscheiden!
Der jetzige Zustand, der vor allem die Bürgerversammlungen, aber auch die BA’s entwertet, ist erstmal auf Monate bis zu einer eventuellen Satzungsänderung festgeschrieben. Die Vorsitzende des BA 9 will möglichst schnell einen Änderungsantrag an die Satzungskommission1 richten, dabei wäre Unterstützung durch den BA 8 natürlich wünschenswert. Nicht nur bis dahin wird die bisherige unbefriedigende Situation bleiben: Wer sich auf Bürgerversammlungen zu Wort meldet, ist nicht mehr als ein lästiger Bittsteller. Und während die Referate dem Stadtrat gegenüber weisungsgebunden sind, versuchen sie umgekehrt alles, um die Vertreterinnnen und Vertreter der einzelnen Viertel in ihre Schranken zu weisen.
Die Selbsterhöhung zum „Stadtteilrat“ allein wird da sicher nicht Abhilfe schaffen.
Florian Büchner
BA 9/Neuhausen-Nymphenburg
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1 der den zuständigen BA’s ein Anhörungs- bzw. Vorberatungsrecht einräumen soll: Immerhin kennen die meisten BA-Mitglieder die Fußangeln des Verwaltungsrechtes und lassen sich vielleicht nicht ganz so einfach abwimmeln wie einzelnen Bürgerinnen und Bürger.
Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 38 vom Februar 1997, 14.