Materialien 1996
Das Unrechtsbewusstsein schwindet
…
Ich entsinn’ mich, 1968, das Buchgewerbehaus in der Schellingstraße gehörte zu unserem Be-
reich.
Ich war da eingesetzt, alle fünf Nächte hintereinander. Und ich muss sagen, Gott sei Dank gab es da die Toten, sonst wäre die Presse nicht umgeschwenkt. Vorher war sie auf der Seite der Studen-
ten, nachher nicht mehr. Da sind nämlich Pflastersteine geflogen, aus dem verwilderten Gebüsch, wo heute die Neue Pinakothek steht, und viele Polizisten sind verletzt worden, weil es damals noch kein Schutzschild gab. Wasserwerfer hatten wir einen einzigen und der fuhr nur im Schneckentem-
po. Es ging alles drunter und drüber. Es war ein politisches Versagen, das auf dem Rücken der Po-
lizei ausgetragen wurde.
Das war eben das Aufmucken einer neuen Generation, wie schon bei den Schwabinger Krawal-
len.
Diese Leute von damals, der Teufel, der Langhans, der Dutschke sind doch alle praktisch in der Versenkung verschwunden.
Ich meine, die Jugendlichen heute legen mehr Wert darauf, ordentlich zu lernen und Karriere zu machen. Die Null-Bock-Generation ist zu Ende.
Wie auch die anti-autoritäre Erziehung, die ist passe, die gibt’s nimmer, man hat wieder andere Vorstellungen, andere Werte. Ich finde, dass die Werte wieder verrückt werden zum Positiven.
Wenn ich da an die Demonstration gegen den Weltwirtschaftsgipfel denke, die Trillerpfeifen ge-
gen die Staatsmänner der G7-Staaten. Es werden sich doch Politiker noch friedlich in München treffen und miteinander reden dürfen! Und andererseits 1992 an die Lichterkette gegen Ausländer-
feindlichkeit. 40 – 50.000 Demonstrationsteilnehmer mit ihren Kerzen und Taschenlampen, eine der friedlichsten Demonstrationen, die ich in dieser Größenordnung mitgemacht habe. Und ich sage Ihnen, alle Kollegen, die dort Dienst gehabt haben, waren mit den Demonstrationsteilneh-
mern einer Meinung. Da hat es überhaupt keine Probleme gegeben.
Das sind die Highlights. Aber die eigentliche polizeiliche Arbeit findet drunten auf der Wache und im Streifendienst statt. Die Kollegen machen Schichtdienst: in der Früh wird abgelöst, mittags und abends. Und nachts. Es gibt vier Schichten, um die 24 Stunden abzudecken. Die müssen die motorisierten Streifen stellen, die dann von der Einsatzzentrale zu ihren Einsätzen dirigiert wer-
den. Wir haben 14 Autos, ein paar Motorräder und ein paar Dienstfahrräder.
Privat fahr’ ich sowieso meist Fahrrad und wenn das Wetter einigermaßen ist, auch die fünf Ki-
lometer zur Dienststelle. Das machen viele andere Kollegen auch.
Unser Bereich beginnt am Hauptbahnhof und geht bis zur Kennedybrücke.
Der ganze interessante Teil des Englischen Gartens gehört dazu.
Früher hieß es Polizeirevier 3 und war in der Heßstraße. Doch seit der Umorganisation 1977 sind die Reviere vergrößert worden, haben sich die Inspektionsgrenzen verändert. Früher gehörten wir zur Gemeinde, also zur Stadt und seit 1975 sind wir staatlich. Früher waren wir in Blau-Grau, heute sind wir grün wie Schnittlauch. Früher waren die Reviere kleiner und wir hatten mehr Beamte, heute müssen wir mit der gleichen Anzahl von Beamten ein dreimal größeres Gebiet kontrollieren …
Wenn ich also im Sommer, bei 28, 29, 30 Grad in den Alten Botanischen Garten gerufen werde wegen der Penner, ich bin im Hemd und habe ein Funkgerät, ein Handsprechfunkgerät, um Kon-
takt mit der Dienststelle zu halten, und dann gibt’s einen Widerstand. Was machen? Das Funkge-
rät. auf den Rasen legen, dass du beide Hände frei hast? Also hab ich Mitte der 70er Jahre einen Verbesserungsvorschlag eingereicht, ob man nicht eine Gürteltasche für das Funkgerät bekommen könne. Und was haben sie zurückgeschrieben? Für diesen Zweck solle man doch die KOB-Tasche nehmen.
Das ist die Kontaktbeamtentasche, eine Art Koffer. Aber da bist genauso weit wieder wie mit dem Funkgerät. Wenn ein Widerstand kommt, wenn du mit einem raufen musst, da bist mit der KOB-Tasche praktisch gefesselt. Oder du legst sie auf den Boden. Da kannst aber das Funkgerät auch so auf den Boden legen. Das sind eben die Bürokraten am grünen Tisch, die keine Ahnung von der Praxis haben.
Am bequemsten ist halt das Hemd, weil einen da keine Uniformteile einzwicken. Im Innendienst trag’ ich das Hemd und vielleicht eine Lederjacke drüber, eine von den bequemen, die wir seit Gau-
weilers Zeiten haben.
Und die Polizeimütze, auf der neben dem Stern zu Münchner Zeiten noch ein Münchner Kindl drauf war. Jetzt haben wir neben dem Stern das bayerische Wappen.
Die alten Uniformen kann man ja noch in den Isar-Polizeifilmen sehen.
Wobei die neueren Folgen, also, ich weiß nicht, das ist reine Unterhaltung, das hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun.
Einmal hab’ ich in einem mitgespielt, >Zuckerbrot und Peitsche< hieß der und war mit dem Harald Leipnitz. Da hab’ ich aus der Dienststelle raus gehen müssen, über die Straße und in ein Fenster hineinschauen, hinter dem der Leipnitz gesessen ist für zehn Mark Gage. (lacht) Das war so um 1967 rum.
Was mich an so Filmen stört ist, dass die Sachen bringen, die man der Jugend nicht so zeigen sollte: Wie man ein Auto knackt in Großaufnahme oder wie man einbricht, indem man ein Fenster vorher mit Leim beschmiert, das ist doch nur ein Anreiz, es selber auszuprobieren.
Dann diese gewalttätigen Filme, ich finde schon, dass die die Hemmschwelle herabsetzen, wenn die täglich kommen. Dass das Unrechtsbewusstsein schwindet.
In Einzelfällen schon. Aber ich bin der Meinung, dass diese gewaltverherrlichenden Filme in den Köpfen der Jugendlichen als Fiktion weiterbestehen. Da sind die Jugendlichen manchmal noch kritischer als die Erwachsenen.
Die Wirklichkeit ist doch so: im Monat haben wir 15 bis 30 Festnahmen. In der Dienststelle ist eine Ausnüchterungszelle, in der die Leute aber nur ein paar Stunden bleiben. Ich habe in meinen 36 Jahren Polizeidienst noch nicht einmal zur Pistole greifen müssen. Auch nicht zum Schlagstock.
Ich auch nicht. Dafür hat mir mal einer das Nasenbein gebrochen.
Auf uns hat einer einmal geschossen, ein Autoknacker, bei der Flucht hat er das ganze Magazin auf uns abgeschossen, aber Gott sei Dank keinen von uns getroffen. Ein Kollege hat von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht, ihn in die Milz getroffen. Er kam ins Krankenhaus und wurde dann zu acht Jahren verurteilt.
Aber das sind die Ausnahmen, im Gegensatz zu dem, wie es die Polizeifilme zeigen. Wir sind da zur Erledigung der allgemeinen polizeilichen Aufgaben: von der Aufnahme von Verkehrsunfällen bis zur Festnahme von Straftätern, quer durch das ganze Strafgesetzbuch. Teils durch uniformier-
te, teils durch zivile Kräfte. Wir wären ja hinter dem Mond, wenn wir alles in Uniform machen würden. Verdeckte Ermittlungen, die großen Sachen, macht die Kripo, sprich das Landeskrimi-
nalamt.1 Die Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität zum Beispiel. Den Erstzugriff machen die Uniformierten, die folgende Sachbearbeitung die Kripo, die vernehmen auch, dann geht es zur Staatsanwaltschaft, die prüft, ob ein Haftbefehl zu beantragen ist. Ob einer eingesperrt wird, ent-
scheidet dann ein Richter.
Da fällt mir die Hausbesetzung anno 1981 ein, als das Haus Nr. 30 in der Türkenstraße besetzt wurde, aber nur kurz, es war kein großer Einsatz. Wir konnten halten, was unser Präsident ver-
sprochen hatte: dass in München kein Haus länger als 24 Stunden besetzt sein würde.
Und da sagst dir dann, Herrschaft, hast selber keine Wohnung und das ist ein staatliches oder ein städtisches Gebäude und steht schon lange leer und Geldleute werden kommen und es runter-
wirtschaften und abreißen, da sagst dir, die haben Recht, die sollen das ruhig anprangern. Aber andererseits bist du Polizist und dem Gesetz verpflichtet und musst dann die Räumung durchzie-
hen.
Da steht eben nicht bloß das Gesetz, sondern die ganze freie Marktwirtschaft im Raum. Dann musst dich eben auch fragen: Willst diese Marktwirtschaft in der Demokratie mit ihren Neben-
erscheinungen oder wärst du bereit, Abstriche an der Demokratie zu machen?
Im Beamtenrecht steht, dass der Beamte gefordert ist, Widerspruch oder Beschwerde einzule-
gen, wenn er feststellt, dass etwas Ungesetzliches von den Vorgesetzten ausgeht.
Das hat es allerdings bei uns noch nie gegeben.
Eigentlich wäre ich gern Jäger oder Förster geworden, ich bin vom Land.
Ich wollte eigentlich Orgelbauer werden. Aber damals gab’s nur zwei Lehrstellen in Deutschland, in Stuttgart und in Köln, da haben mich die Eltern als 14jährigen nicht weggelassen. Dann hab’ ich halt Schriftenmalerei und Grafik gelernt und als ich die Farbe nicht mehr vertragen habe, bin ich zur Polizei.
Ich war Großhandelskaufmann in einer Mercedesvertretung. Und als die Alternative kam: Bund oder Polizei, bin ich wie der Kollege auch zur Polizei.
Wie vorhin schon gesagt, gehört der >interessante< Teil des Englischen Gartens zu uns: Der See, die Gaststätten, der Chinesische Turm, der Monopteros mit den Rauschgifthändlern, die Nackten, die Schwulen, gehört alles zu uns.
Das mit den Nackerten ist zurückgegangen, das war bis 1985 stark. Da sind Tausende von Nack-
ten herumgelegen, nicht nur auf dem Reiteroval auf der Schönfeldwiese, wo es erlaubt war, son-
dern kreuz und quer. Wir haben da unsere Toleranzbereiche. Aber so viel Anhänger wie es gegeben hat, so viele Ankläger hat’s auch gegeben. Dann sind wir gekommen und haben seinen Ausweis ge-
prüft und ihn angezeigt wegen einer Ordnungswidrigkeit nach der Badeverordnung. Nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, da hätte einer ja wirklich dran Anstoß nehmen müssen. Und wenn man ein hübsches Mädchen sieht, muss man ja nicht unbedingt Anstoß nehmen.
Das hat dann ein Bußgeld gegeben von 100 bis 250 Mark, je nachdem wie er gelegen ist. Wenn einer auf dem Rücken liegt, die Beine gespreizt und in sexuellem Erregungszustand, das ist was anderes, als wenn einer auf dem Bauch liegt und friedlich schläft.
Unser ganzer Bereich ist Sperrbezirk, da ist also Prostitution verboten. Obwohl im Bereich des Hauptbahnhofs, das Stückerl Dachauer Straße, Lämmerstraße, Hirtenstraße, da treten immer wieder welche auf. Aber lange nicht so stark wie in den 60er oder 80er Jahren. Das Hauptmilieu hat sich auf die Ausfallstraßen verlagert, Ingolstädter, Freisinger Landstraße.
Bei uns, wenn eine dreimal erwischt wird, kommt sie in Unterbindungsgewahrsam. Da hockt sie dann in der Haftanstalt und verdient nichts.
Und wenn sie einen Luden hat, der ihr die Hucke vollhaut, weil sie sich hat von den Scheißbullen erwischen lassen und keine Kohle heimbringt, dann geht sie halt in Zukunft woanders auf den Strich, wo sie zwar weniger verdient aber sicherer.
Ob ich einen persönlichen Kontakt zur Türkenstraße habe? Nachdem ich seit 1983 hier bin, fühl’ ich mich irgendwie dazugehörig. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich von der Bevölkerung ir-
gendwie abgelehnt würde.
Die Bevölkerung hier ist schon etwas Besonderes, würd’ ich sagen, das ist keine x-beliebige, die ist besonders diffizil und sensibel. Da muss man aufpassen, da kann man nicht so frei von der Le-
ber weg reden wie in anderen Stadtteilen.
Wir haben viele Hochschulen hier, die Universität, die TU, die Akademie, dann viele Banken und Versicherungen, die nehmen auch keine Penner. Ich würde sagen, der Bildungsgrad ist hier sehr hoch.
Der Dienst hier hat sicher seinen besonderen Reiz, aber einfacher wär’ er auf dem Land.
Für mich gehören zur Türkenstraße die Toni Netzle vom Simpl, der Mathias, der Penner, den wir neulich aus der Damentoilette haben vertreiben müssen und das Heizwerk.
Mein Verhältnis zur Türkenstraße (die anderen lachen) kommt daher, dass meine erste Frau dort gewohnt hat und ich dann auch, zwei Jahre lang. Auf Nummer 40, im 4. Stock, in der Perso-
nalwohnung des Heizkraftwerks.
Ich war damals auf Funkstreife im Dienst. Es gab damals noch wenige Verkehrsampeln und ich hatte den Verkehr auf der Kreuzung Gabelsberger/Augusten zu regeln. Da war gegenüber ein klei-
nes Blumengeschäft und da hat meine Ehemalige gearbeitet. Und wie sie einmal zum Einkaufen ist, hat sie so hergeblinzelt und ich blinzel zurück und da ist mir aufgefallen, dass sie öfter zum Einkaufen ging. Und wenn man dann zwei- bis dreimal in der Woche Verkehrsposten dort macht und sie schaut dich wieder an und du schaust zurück, na ja. Und dann hab’ ich eines Tages meinen Regenmantel dort deponiert, weil es aufgehört hatte zu regnen und dann war das Gespräch gesche-
hen und dann ging’s halt weiter.
Zwei Jahre später war ich unter der Haube. Das erste Kind ist in der Türkenstraße geboren. Aber wir sind nicht mehr zusammen. Schuld daran ist der Nachtdienst, den ich da 1968 vor dem Buch-
gewerbehaus hatte. Dann ist da ein anderer gekommen, während ich im Dienst gekämpft habe die ganze Nacht, und dann war es geschehen.
Das Buchgewerbehaus war mitschuld daran, deshalb kann ich es auch nicht vergessen.
Helmut Bayer, Franz Büch, Herbert Voest
(Seit Ende 1997 genießen Helmut Bayer und Herbert Voest ihren Ruhestand.)
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1 Von 1946 bis 1968 im Palais Dürckheim, Türkenstraße 4.
Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 716 ff.