Materialien 1996
Liebe oder Neugier
Kommentar zur Podiumsveranstaltung der HU-München: „ASYL – Ende der Debatte. Hat das Grundrecht auf Asyl den Gang nach Karlsruhe überlebt?“
Der Titel der Veranstaltung vom 21. Juni 1996 lässt erkennen, dass nach dem Entscheid des BVerfG vom 14. Mai 1996 die Debatte wirklich zu Ende zu sein scheint.
Die Vertreterin des Münchner Flüchtlingsrats, Monika Steinhauser, und Rechtsanwalt Werner Dietrich, Menschen, die mit den Betroffenen zu tun haben, stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Ehrlichkeit, das Asylrecht in Deutschland de facto als abgeschafft zu sehen, wird ihnen fast übel genommen. Vor allem vom parlamentarischen Vertreter des Abends, Otto Schily, der sich vertei-
digend immer wieder hinter differenzierte (aber leider politisch nicht wirksam gewordene) Mei-
nungsäußerungen innerhalb der SPD zurückzieht, einer SPD, die dank ungünstiger Wählerent-
scheidungen eben leider nicht so könne, wie sie möchte. Möchte sie aber?
Schon wenn Otto Schily (ein CSU-Vertreter hat die Einladung für das Podium ausgeschlagen) sich in Fragen „sichere Drittstaaten“ auf sehr selektiv zitierte Aussagen von ai beruft, wird deutlich, dass sogar er – immerhin galt er als bürgerrechtlicher Hoffnungsträger – die eigentliche Dramatik der Asylsuchenden (Abweisung ohne Anhörung: an der Grenze oder durch die „Flughafenrege-
lung“, Kriminalisierung durch „Abschiebehaft“ , Asylverweigerung via „Kettenabschiebung“ usw.) lieber nicht benennt. Wenn er ins Publikum fragt, wie man sich eine Asylregelung denn vorstelle, oder ob man zur früheren Regelung zurückkehren möchte, gibt das eher Auskunft über das spär-
liche oppositionelle Alternativenkonzept im Bundestag. Wenn er das Insistieren der Podiums-
kollegInnen und des Plenums auf versäumte Chancen bei der Bekämpfung der Fluchtursachen herunterspielt (Stichworte: Waffenexport, Beihilfe der Bundesrepublik Deutschland zur Verschär-
fung statt zur Schlichtung von Konflikten), dann stellt sich ernstlich die Frage, in welchen Gesamt-
zusammenhängen selbst ein gutwilliger Politiker zu argumentieren in der Lage ist. Auch das ent-
schlossene Vorantreiben eines Einwanderungsgesetzes, zugleich mit dem Festhalten an der Genfer Flüchtlingskonvention, scheint im übrigen nicht Sache der SPD-Politik zu sein.
Dennoch hat der Abend deutlich gemacht, dass der – das Grundgesetz Nachkriegsdeutschlands auszeichnende – Asylartikel 16 GG ein Symbol für freiheitlich-demokratische und menschen-
würdige Grundordnung ist – besser gesagt, war. Wenn Art. 16 – mit oppositionellem Bedauern – de facto drangegeben worden ist, muss ehrlich eingestanden werden, dass damit auch die ideo-
logische Grundlage, aus der heraus er entstand, hinfällig geworden ist. Herumreden bringt nichts.
Weit entfernt sind wir von der Idealwelt, in der „Liebe oder Neugier“ die einzigen Motive für Aus-
wanderung und Umsiedlung sein sollten, wie Monika Steinhauser es gern sähe. Vielleicht aber kann der bescheidene Druck aus der Bürgerrechtsecke dazu führen, dass zumindest diese Vision nicht stirbt, auch wenn die real existierende Welt anders aussieht. Vielleicht auch kann er die politischen Mandatsträger herausfordern – vom Moderator des Abends, Christian Schneider, Redakteur der Süddeutschen Zeitung nach Kräften unterstützt – und eine real existierende und vernehmbarere Oppositionspolitik gegen die Verabschiedung grundlegender Menschenrechte ermutigen.
Bernd Michl
Mitteilungen der Humanistischen Union 155 vom September 1996, 76.