Materialien 1997
Das Abschreckungsprinzip
Flüchtlinge in München
Die genaue Zahl der Flüchtlinge in München ist nicht bekannt. Für 1995 geht man im allgemeinen von etwa 18.000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien und etwa 7.000 AsylbewerberInnen aus. Insgesamt machen sie weniger als 2 Prozent der Bevölkerung aus.
Die offizielle Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik basiert auf den Pfeilern „Abwehr“ und „Abschreckung“. Der Abwehr dienen alle Maßnahmen, die Grenzen dicht zu machen („sichere Drittstaaten“, Visumzwang, Infrarotüberwachung der „Grünen Grenzen“ etc.). Die Idee der Abschreckung geht von der Grundannahme aus, die Flüchtlinge kämen zu uns, weil es ihnen hier so gut geht und nicht, weil es ihnen in ihrer Heimat so schlecht geht. Abschreckung heißt also, das Leben hier so schrecklich zu machen (und darauf zu vertrauen, da sich dies in den Herkunftsländern herumspricht), dass potentielle Flüchtlinge es sich gut überlegen sollen, ob sie nicht lieber die Verfolgung zu Hause aushalten. Dass das Abschreckungsprinzip nicht funktioniert, kommt auch daher, dass die verantwortlichen Politiker keine Vorstellung davon haben, wie furchtbar die Verhältnisse sind, aus denen Menschen fliehen. Es ist das Abschreckungsprinzip, das die materiellen Lebensbedingungen der Flüchtlinge in München bestimmt. Im Einzelnen sieht das so aus:
Unterkunft
Während der überwiegende Teil der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge bei ihren Münchner Verwandten oder Bekannten wohnen, leben zur Zeit etwa 11.000 Menschen in sogenannten „Gemeinschaftsunterkünften“ (Containerlager, Baracken, ehemalige Büro- und Gewerbebauten). Diese Unterkünfte waren ursprünglich als Notlösung für einen relativ kurzen Zeitraum gedacht gewesen. Tatsächlich leben die Flüchtlinge dort aber oft über mehrere Jahre. „Gemeinschaftsunterkunft“ – das bedeutet bis zu 500 Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache auf engstem Raum, vier Menschen teilen sich einen Wohn- und Schlafraum von 13 – 18 m2. Zwanzig oder mehr Menschen teilen sich eine Dusche, vier oder mehr Menschen teilen sich eine Kochplatte. „Gemeinschaftsunterkunft“ – das bedeutet auch Kontrolle: um 22.00 Uhr haben Besucher das Lager zu verlassen, wer mehr als drei Nächte nicht in seinem Bett schläft, verliert seinen Platz in der Unterkunft. „Gemeinschaftsunterkunft“ – das bedeutet vor allem: jahrelang keine Tür hinter sich zumachen zu können, keinen geschützten Raum zu haben.
Wer je in einer Wohngemeinschaft gelebt hat und weiß, wie stressig und konfliktträchtig manchmal schon das freiwillige Zusammenleben von vier oder fünf Gleichgesinnten unter wesentlich komfortableren Bedingungen sein kann, kann sich vielleicht eine Vorstellung vom Leben in einer GU machen …
Sozialhilfe ist definiert als das Minimum dessen, was „dem Empfänger … die Führung eines Lebens … ermöglichen (soll), das der Würde des Menschen entspricht“ (§1 Bundessozialhilfegesetz). Das Asylbewerberleistungsgesetz billigt Flüchtlingen weniger als dieses Minimum zu. Es erklärt sie damit zu Menschen niedrigerer Würde, zu einer Art Untermenschen.
Arbeitsmöglichkeiten
Flüchtlinge, die Sozialhilfe oder Sachleistungen erhalten, können zu „Sozialhilfearbeit“ herangezogen werden. Die Angebote an Sozialhilfearbeit sind in den Lagern sehr begehrt. Neben der psychischen Erleichterung durch Arbeit (sie lenkt vom Lageralltag und dem Warten in ständiger Ungewissheit ab, gliedert den Tag und gibt dem Dasein einen Sinn), sind für jemanden, der nur 80 DM Bargeld im Monat erhält, auch 2 DM Stundenlohn keine „peanuts“.
Wer schon länger als drei Monate hier ist, kann eine Arbeitsgenehmigung bekommen, nachdem das Arbeitsamt eine Arbeitsmarktprüfung durchgeführt hat, d.h. nachdem abgeklärt ist, dass kein Deutscher, EG-Angehöriger oder sonstwie bevorrechtigter Ausländer für einen bestimmten Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Das hat bei der derzeitigen Lage auf dem Arbeitsmarkt dazu geführt, dass AsylbewerberInnen nur äußerst selten eine Vollzeitarbeitsstelle erhalten. Bei Teilzeitstellen, z.B. ,,500-DM-Jobs“ kann das Arbeitsamt auf die Arbeitsmarktprüfung (sie zieht sich u.U. mehrere Wochen hin) verzichten.
Die persönliche Situation der Flüchtlinge
JedeR, der/die hierher gekommen ist, lebt ständig mit seiner/ihrer persönlichen Verfolgungsgeschichte. Die Erfahrungen im Heimatland und auf der Flucht lassen sich nicht dauerhaft verdrängen. Aber auch hier finden sie nicht Atmosphäre von Ruhe und Sicherheit, die ihnen eine Chance für die Verarbeitung ihres Schicksals gewähren könnte. Die täglich erfahrene Ablehnung, offener und versteckter Rassismus, die Unsicherheit ihres Bleiberechts, die Trostlosigkeit des Lagerlebens, die Angst vor der eigenen Zukunft und um die Daheimgebliebenen führen zu weiteren seelischen Verletzungen …
Monika Steinhauser, Münchner Flüchtlingsrat
Münchner Lokalberichte 15 vom 18. Juli 1997, 8.