Materialien 1997

Illegalität ist eine politische Konstruktion

Gisela Seidler – Rechtsanwältin
Rottmannstraße 11 a
80333 München
Tel: 089/5427500 – Fax: 089/542750 11

14.10.97 h/gm

Sehr geehrte Damen und Herren,

Illegalität ist eine politische Konstruktion. Juristisch handelt es sich um eine Un-Kategorie, ja um ein Un-Recht. Illegal ist, wer außerhalb des Gesetzes steht, wer kein vom Gesetz geschütztes Recht genießt und den keine gesetzliche Pflicht zu einem Tun oder Unterlassen zwingt. Da aber jeder Mensch seine unveräußerlichen Menschenrechte besitzt, auch wenn er diese nicht einfordern kann, kann ein Mensch nicht illegal sein.

Faktisch unterscheidet sich das Leben in der Illegalität nur unwesentlich von der „Vogelfreiheit“ früherer Jahrhunderte. Die Menschenrechte sind Rechte im Verhältnis zur Obrigkeit. Sie können nur wirksam werden, wenn sich irgendein Staat für den Schutz des Menschen als zuständig erachtet. Mit dem Ende dieser Zuständigkeit, z.B. durch Ausbürgerung gehen regelmäßig auch die Menschenrechte verloren – durch den Verlust der Möglichkeit, diese Rechte geltend zu machen. Diese Erfahrung mussten während der Zeit des Faschismus Tausende von Flüchtlingen machen, die nach ihrer Ausbürgerung in den Zufluchtländern in Internierungslager gesperrt oder willkürlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt waren, ohne sich auf irgendein hiergegen wirksames Recht im Heimat- oder Zufluchtland berufen zu können. Aus dieser Erkenntnis wurde in das Grundgesetz das absolute Verbot einer zwangsweisen Ausbürgerung aufgenommen und 1954 wurden durch Vereinbarung der Vereinten Nationen internationale Regelungen zum Schutz der Menschenrechte Staatenloser getroffen.

Wir fordern heute Menschenrechtsschutz für alle Flüchtlinge und MigrantInnen unabhängig von Herkunft und Papieren. Die Verwirklichung der Menschenrechte wird zur zentralen Frage der Gegenwart. Entscheiden wird sich diese Frage am Umgang der Industrienationen mit Migration. Wenn die Menschenrechte nicht nur auf dem Papier stehen sollen, wenn wir es ernst nehmen mit der Gleichheit aller Menschen, dann darf es keine Unterscheidung der Menschen in Legale und Illegale geben. Dann muss das für Deutsche oder Europäer fast selbstverständliche Recht, zu entscheiden, wo und wie sie leben wollen, für alle Menschen gelten.

Die derzeitige Kriminalisierung illegalisierter MigrantInnen und deren UnterstützerInnen aus dem humanitären, dem politischen oder dem professionellen Spektrum lässt das Gegenteil erwarten. Die Hetze gegen Illegalisierte, Schlepper wie auch gegen das Kirchenasyl dient dazu, die Stimmung für die Vollstreckung polizeilicher Maßnahmen sowie für weitere Gesetzesverschärfungen zu schüren.

Dabei wirkt sich die gegen MigrantInnen gerichtete Politik unmittelbar auf die Verfasstheit der Gesellschaft aus. Die Unterscheidung der Bevölkerung in Menschen mit und ohne Aufenthaltsrecht, mit und ohne Papiere, „legal“ und „illegal“ ist nur mit polizeistaatlichen Mitteln aufrechtzuerhalten. Tatsächlich erleben wir derzeit eine beispiellose Stärkung der vollziehenden Gewalt. Einer der tragenden Grundsätze der Verfassung, das Gewaltenteilungsprinzip wird zur Disposition des Gesetzgebers gestellt und vielfach durchbrochen.

Selbst die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, wurde mit der jüngsten Verschärfung des Ausländerrechts aufgegeben. Beschlossen wurde die regelmäßige Ausweisung bei einfachem Landfriedensbruch, ohne dass es auf eine gerichtliche Verurteilung ankommt. Damit wird die Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung vor Abschluss oder sogar nach Einstellung eines Ermittlungsverfahrens möglich. Die Ausländerbehörden als vollziehende Gewalt erhalten die Befugnis, weitreichende Entscheidungen ohne Rücksicht auf richterliche Feststellungen zu Tat und Schuld zu treffen.

Ist ein Rechtsprinzip oder ein Verfassungsgrundsatz einmal aufgegeben, so besteht kaum eine Chance, ihn wiederzuerlangen. So markieren die gesetzlichen Maßnahmen gegen MigrantInnen und Flüchtlinge zugleich Schritte in Richtung eines autoritären, unkontrollierbaren Verwaltungsstaates. Die Zeichen hierfür sind offensichtlich. Herausragendes Beispiel ist die weitgehende Abschaffung der Rechtsmittel gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen. Dieser weitgehende Abbau von Rechtsschutz wurde zunächst im Asylverfahren durchgesetzt. Hier ist eine Berufung gegen noch so falsche und unlogische Entscheidungen nur noch dann möglich, wenn eine grundsätzliche Bedeutung gegeben ist, oder das Gericht in Grundsatzfragen von obergerichtlichen Entscheidungen abweicht. Beschlüsse im Eilverfahren sind unanfechtbar. Seit 1. Januar 1997 ist ein erheblicher Teil dieser Regelungen in die Verwaltungsgerichtsordnung übernommen worden und gilt nunmehr für alle Verwaltungsstreitigkeiten.

Begehrlichkeiten in Politik und Verwaltung nach dem Abbau von Schutzrechten oder sozialen Ansprüchen sind schon lange vorhanden und werden auch schon seit langem schleichend durchgesetzt. Es gilt, die Sensibilität hierfür zu schärfen. Und es gilt, klare antirassistische Positionen zu beziehen.

Deshalb machen mit dem Aufruf „Kein Mensch ist illegal“ viele Menschen und Gruppen, die MigrantInnen ohne Ansehens ihrer Papiere unterstützen, ihr Handeln öffentlich und rufen zur Hilfe bei der Ein- und Weiterreise, bei der materiellen Existenzsicherung, zur Gewährung einer medizinischen Versorgung und der Garantie von Schul- und Ausbildung auf.

Unsere praktische Unterstützung respektiert die Entscheidung der MigrantInnen und Flüchtlinge, in dieses Land zu kommen und fragt nicht nach Gründen. Sie ist erfolgreich insoweit, als es gelingen kann, MigrantInnen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen und Hilfe in Notlagen zu geben.

Es gibt aber Menschenrechte, für deren Durchsetzung die Unterstützungsarbeit zwar den Boden bereiten kann, die jedoch die MigrantInnen nur selbst erkämpfen können: es sind die politischen Menschenrechte, vor allem die Meinungsfreiheit, das „vornehmste Menschenrecht“. Die Meinungsfreiheit wird erst dann wirksam, wenn die Meinung auch gehört wird. Ihrer Meinung Gehör verschaffen können die Flüchtlinge und MigrantInnen nur selbst, wie die Bewegung der „Sans Papiers“ in Frankreich beweist. Ihnen hierbei mit besten Kräften zu helfen, ist unsere Aufgabe.

Gisela Seidler
Rechtsanwältin


Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1997
Bereich: Flüchtlinge

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