Materialien 1997
Trotz allem?
Zarte Kritik an der Kampagne „Aktiv gegen Männergewalt“ und bittere Polemik zur Diskursivierung von sexuellem Missbrauch1
Der Tatort „Bombenstimmung“ fängt gerade an, als die Nachspeise vom Tisch ist. Die Bullen sind zwar nett und spleenig — fahren Ferrari und tragen Cowboystiefel — aber diese blödsinnige „Wir sind wie Du-Art“ von Sympathisantenwerbung ist ja heute Standard. Tatort ist der Schulhof. Ein soeben vom Verdacht des sexuellen Übergriffs freigesprochener Lehrer ist in die Luft gesprengt worden.
Ins Visier der Ermittlungen gerät eine Schülerin, hübsch und nicht auf den Mund gefallen. Sie hatte den Lehrer angezeigt. Am Ende zeigt sich: Das vermeintliche Opfer wird zum Täter — aus Rache. Sie war verliebt, aber er ließ sich korrekterweise nicht becircen. Ermordet hat sie ihn aber nicht. Das war ein korrupter Journalist, der sie für seine gefälschten TV-Berichte funktionalisiert hat. Die kleine Lolita überlebt dann noch ihren Selbstmordversuch und ist geläutert. Der nette Polizist bringt Blumen ans Krankenbett, Ende gut, alles gut.
Was haben wir gelernt? Unser Rechtsstaat ist weise und gerecht, Mädchen in der Pubertät sind raffinierte Biester – glauben darf mann ihnen nichts, aber mann soll sie trotzdem mögen. Die Medien sind korrupt und einflussreich, und nur der gute Onkel von der Polizei kann mit einem
Mix aus Härte und Verständnis jene Gefahr bannen, die allen gutsituierten und korrekten Mittel-
schichts-Männern überall droht: Verleumdung bis hin zum Mord, bekannt auch als der sogenannte „Missbrauch mit dem Missbrauch“.
Tatsächlich aber zeigt uns dieses Musterbeispiel medialer Diskursabrahmung vor allem eines: Nachdem sich Feministinnen jahrzehntelang darum bemühten, sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen in die gesellschaftliche Diskussion zu bringen, hat dieses Thema nun tatsächlich seinen Weg ins öffentliche Bewusstsein gefunden. Missbrauch, der real in jeder fünften Frauenbiographie vorkommt, ist inzwischen auch in den Medien ständig präsent und lässt sich (siehe Tatort) pro-
blemlos zur besten Familien-Sendezeit abhandeln. Fragt sich nur, wie. Zur Zeit scheint der reaktio-
näre Gebrauch zu überwiegen. Spätestens seit den Ereignissen in Belgien, seit Kim, Natalie und all den anderen, ist Missbrauch regelmäßig in den Schlagzeilen. Die Botschaft lautet immer gleich: Unsere (jeweils national gefassten) Kinder (so als ob Mädchen und Jungen gleichermaßen betrof-
fen wären) sind in Gefahr: Der psychopathisch-triebhafte Wiederholungstäter geht um. Die Be-
richterstattung über unzählige Einzelschicksale, über die Tat, die Fahndung, das Leid der Ange-
hörigen, den Schock der Bevölkerung, die Versprechen der Politiker blieb nicht ohne Konsequen-
zen, zumindest auf der Repräsentationsebene. Reportagen, Talkshows, Erlebnisberichte und Krimis eigneten sich das Thema an.
Gewalt gegen Mädchen und Frauen wird heute meist unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten verhandelt: Einerseits wird im Kontext der Debatte um „Innere Sicherheit“ die Sicherheitsver-
wahrung und chemische Kastration von fehlgeleiteten Triebtätern diskutiert. Dieser Argumen-
tationsstrang, der letztlich unter anderem die frohe Botschaft verkündet: „Weiberleut’ bleibt’s daheim – draußen ist es zu gefährlich, da schleicht ein böser Fremder durch den dunklen Park“, ist im Grunde uralt und vielfältig funktionalisierbar. Der Mensch/Mann ist ein Wolf. Für das Überle-
ben unter Wölfen bieten inzwischen sogar die Männer von der Polizei Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Und auch der eine oder andere Kampfsportverein hat die Marktlücke Gewaltprävention für Frauen erkannt und macht den feministischen Selbstverteidigungsprojekten der ersten Stunde Konkurrenz. Diese jedoch behandeln das Problem gerade nicht als individuelles Dilemma, sondern als strukturell verankerte Normalität einer Gesellschaft, in der die meisten Männer mehr Macht als Frauen haben. Frauen, die es nicht nur auf den Handkantenschlag gegen den Fremden im Park abgesehen haben, sollten sich lieber an Gruppen wenden, die von Frauen für Frauen angeboten werden (in München z.B. das Wen Do-Projekt). Hier ist nämlich auch Gewalt im sogenannten sozialen Nahraum Thema.
Diese Form von Gewalt ist die zweite Diskursebene. Mittels kontinuierlicher Arbeit, Stichwort „Wir glauben Euch“, haben Frauen die Alltäglichkeit sexueller Gewalt in Schule, Büro, am Fließband oder in der Familie in die öffentliche Debatte eingeführt. Die öffentliche Darstellung von Miss-
brauch in Familie und Verwandtschaft folgte anderen Regeln als die reißerische Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen im Parkhaus etc. In beiden Fällen steht der Einzelfall im Vordergrund. Medial wird auch der familiäre Missbrauch meist wie ein Gruselroman inszeniert: das Böse lauert überall, diesmal sogar im Kinderzimmer. Der Unterschied ist jedoch, dass sich Darstellung des familiären Missbrauchs von Kindern nicht so sehr auf den „perversen“ Täter konzentriert (seine schlimme Sozialisation: selbst missbraucht, alkoholabhängig, arbeitslos, Mehrfachtäter …), son-
dern mehr auf das schmerzhafte Erinnern des Opfers.
Das hat seine Logik, denn würde auch hier der Täter in den Mittelpunkt gestellt werden, müssten Mann und Frau feststellen, dass das Täterprofil nicht den gängigen klassischen Vorurteilen ge-
horcht. Am häufigsten passiert Missbrauch in den Familien. Der Täter ist der ganz normale Mann von nebenan. Ehemann, Opa, Vater, Bruder, Onkel, Nachbar, Kollege. Ein Jedermann. Und weil es in der Regel der normale Gestörte und nicht der längst als „gestört“ Pathologisierte ist, müssten sich alle fragen: Wie ist das möglich? Was für eine Gesellschaft ist das, in der Männer völlig nor-
mal, angepasst und oft sogar erfolgreich sind und trotzdem Täter sein können? Und wir würden zu der simplen Antwort kommen: dass in einer patriarchalen Gesellschaft jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger ist.
Dieser Satz ist so alt wie umstritten. Man hört ihn nicht mehr allzu oft, – wie man auch kaum noch von der feministischen Gesellschaftsanalyse hört, die ihm zugrunde liegt. Stattdessen werden wir heute über „Fälle“ informiert. Zwar gibt es immer weniger Menschen, die eine Frau für mitschuldig halten, wenn sie vergewaltigt wurde (was zieht sie sich auch so an, was hat sie denn um die Zeit da zu suchen, sie hat doch auch geflirtet …). Und die Familie wird nicht mehr so einmütig als Ort der heiligen Unschuld betrachtet. Dies ist der Erfolg von Feministinnen, denen es gelungen ist, die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Tabuthemen – vom sexuellen Übergriff am Arbeitsplatz bis zum sexuellen Missbrauch in der Familie – zu erzwingen. Doch auf dem Weg hin zum öffentlichen Diskurs ist leider etwas abhanden gekommen: radikale, feministische Gesellschaftsanalyse und Patriarchatskritik findet nicht mehr statt. Und in der Hitze des „Zum-Thema-Machens“ und im Taumel des öffentlichen Erfolgs wird dieser Verlust anscheinend gar nicht mehr als Verlust wahr-
genommen.
Wie der Wille zum gesellschaftlichen Kompromiss aussehen kann, war jüngst bei der Eröffnung der Münchner Kampagne „Aktiv gegen Männergewalt“ zu beobachten. Der Carl-Orff-Saal im Gasteig war ausverkauft, als Bürgermeisterin Gertraud Burkert die Kampagne eröffnete. „Z. – Zero Tolerance of Violence against Women“ hieß es in Edinburgh und nach diesem Vorbild wird nun auch in München ein Jahr lang mit Infomaterial, Plakataktionen und zahlreichen Veranstaltungen für die Kampagne geworben. Seit drei Jahren bereiten Frauen aus den Münchner Frauenprojekten diese Kampagne vor und fanden MitstreiterInnen auch bei der Stadtverwaltung. Ganze Referate verpflichteten sich zur Mitarbeit. Die Kampagnen-Zeitung nennt die Ziele der Aktion: „Vermittlung von Handlungsbereitschaft und -kompetenz, stadtteilbezogene Veranstaltungen und Maßnahmen, flächendeckende Thematisierung durch Beteiligung aller gesellschaftlichen Bereiche und Ebenen.“ Dies scheint allein aufgrund der enormen Zahl von 160 UnterstützerInnengruppen nicht abwegig und ist durchaus wünschenswert.
Interessant ist aber, wer da alles mitwünscht. Eine Frau vom Allgemeinen Sozialdienst berichtete aus den Amtsstuben: Kollegen formieren sich zu Diskussionsrunden. Nicht übel – vor allem wenn frau von der oftmals beschämenden Behandlung der Missbrauchsopfer in diesen Amtsstuben weiß. Typisch jedoch, dass sie dann das Problem auf die „Risikofamilien“ reduziert, deren „infrastruktu-
relle Probleme“ es aufzufangen gelte.
Doch es kam noch härter. Plötzlich sinken von oben zwei Transparente nieder, von linksaußen tritt eine blonde Schönheit hervor. Als die kurz eingespielte Musik verstummt, hebt sie das Mikrofon wie beim verpassten Playbackeinsatz. Wir erfahren, dass die soeben gehörte Sängerin seit kurzem tot ist, ein Gewaltopfer. Sie selbst ist die Frauenbeauftragte der Polizei und kennt die Problematik, was sie mit dramatischen Zahlenspielen unter Beweis stellt. Sie kommt dann zu folgendem Schluss: „Wir von der Polizei“ würden ja gerne helfen, aber wir können nicht, wie wir wollen, weil „ihr“ (wir Frauen? die Männer? die illegalen ausländischen Arbeiterinnen?) uns nicht genug ver-
traut. Noch, denn der heutige Abend ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: „Danke“, sagt sie, „danke, dass ich hier sprechen durfte, was ja in früheren Zeiten nicht immer möglich war“. Ach — die guten alten Zeiten.
Nach der Pause leistete eine ergreifende Tanz-Performance die künstlerische Bearbeitung des Themas „Frau und Gewalt“. Als Dreingabe dann etwas Wissenschaftliches. Eine Professorin für Kriminologie erklärte euphorisch: Die Zeit ist reif, Frauenbewegung rein in die Institutionen und diese mit Frauenpower demokratisieren. Rechts-links-Denken ist beim Thema Gewalt gegen Frauen obsolet. Als dann Lisa Fitz noch was vom Östrogenarsch der Frau schwafelte, den diese immer wieder nicht hochkriegt, nahm ich mir dies zu Herzen und bin gegangen.
Ein Lichtblick an diesem Abend, weil politisch, konkret und offensiv, war der Vortrag von Feyza Palacek, Mitarbeiterin bei Donna Mobile und dem Ausländerbeirat München. Kurz und knapp legte sie dar, dass ausländische Frauen doppelt diskriminiert sind, weil sie nicht nur mit Sexismus, sondern auch mit dem deutschen institutionellen wie alltäglichen Rassismus konfrontiert sind. Sie forderte dazu auf, die strukturellen Gewaltverhältnisse zu bekämpfen. Als erste Schritte nannte sie unter anderem ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Migrantinnen unabhängig von ihrem Mann, sowie ein Aufenthaltsrecht für Frauen mit Gewalterfahrung. Sie verurteilte die gängige Praxis der Abschiebung von ausländischen Prostituierten, die, weil oftmals illegal, sozusagen vogelfrei, den Zuhältern und der Polizei völlig ausgeliefert sind.
Jetzt sitze ich am Computer, kann keine doofen Krimis ansehen und überlege, was mich so wütend machte. Da ist zunächst mal zu klären: Auch ich bin in ein Projekt im Rahmen dieser Kampagne involviert; auch ich hoffe sehr, dass diese Arbeit Früchte trägt, dass dieses ganze Thema irgend-
wann mal kein Thema mehr sein wird, dass es aus dem Leben aller Frauen verschwindet. Aller Frauen! Aber wer sind diese Frauen, die da als ein kollektives Opfer angesprochen werden? Ist es nicht gerade die Stärke einer feministischen Gesellschaftsanalyse (gewesen?), die Unterordnung von Sexismus und Rassismus unter den großen Hauptwiderspruch des Kapitals zu kritisieren? Einer radikalen feministischen Kritik sollte es darum gehen, Ethnizität, Klasse und Geschlecht als ineinandergreifende Verhältnisse, die sich gegenseitig stabilisieren, zu begreifen und sie dement-
sprechend auch verknüpft zu bekämpfen. Nichts dergleichen habe ich bei der Eröffnung gehört. Im Gegenteil.
Wie sinnvoll, wie effektiv kann ein politischer Ansatz sein, der einen erneuten Hauptwiderspruch, nämlich Männermacht, lediglich in Form von Männergewalt, aufbaut und dies mit der Vernach-
lässigung anderer Gewaltverhältnisse erkauft? Eine solche Einpunktpolitik, die ein homogenes WIR FRAUEN konstruiert, vernachlässigt die Differenzen unter uns. Mir geht es hier nicht um Rechthaberei und Partikularismus um seiner selbst willen. Viel mehr denke ich, dass gerade wegen der vielfältigen Formen von Gewalt, mit denen Frauen bis heute leben müssen, ein Gegenschlag so effektiv wie möglich sein sollte. Da ist es zu wenig, nur auf die falsche Sozialisation von Jungen hinzuweisen und ansonsten die Widersprüche zu glätten. Widersprüche, die anscheinend unhin-
terfragt auf einer Bühne repräsentiert werden. Ein Beispiel: Die Aufgabe der Polizei ist es, dafür zu sorgen, dass in diesem Land alles so funktioniert, wie es soll: also, um an Feyza Palacek anzuknüp-
fen, abgelehnte Asylbewerberinnen oder gehandelte Frauen abzuschieben, Obdachlose (zuneh-
mend auch Frauen) durch die Stadt zu scheuchen und trotz der organisierten Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, Ladendiebinnen festzunehmen und Finanzminister laufen zu lassen.
Wir, die wir gegen Gewalt an Mädchen und Frauen kämpfen, können den Backlash in allen gesell-
schaftlichen Bereichen nicht unter den Teppich kehren, nicht nur, weil gerade die Überlebenden des sexuellen Mißssbrauchs davon besonders hart betroffen sind, sondern auch weil Teile der Frauenbewegung somit wieder mal zu Handlangerinnen jener patriarchalen Gesellschaft werden, welche es so gut versteht „Protestpotentiale abzuspalten und einzubinden und einen Gutteil ihrer Kompetenzen für Innovationen am System zu nutzen.“ Einem System, das Gewalt gegen Frauen als Mittel ihrer Unterdrückung hervorbringt. Diese ist für dieses System existentiell, und deshalb ist es nicht zu reformieren. Trotz allem der Kampagne viel Erfolg – auf dass sie sich überflüssig macht.
:::
1 Trotz allem“ und „Zart bin ich, bitter war’s“ sind bekannte Klassiker zum Thema.
vierte hilfe. Illustrierte Theorie für das Dienstleistungsproletariat, Winter 1997, 62 ff.