Materialien 1997

Straße

Ritus und Aufruhr

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Straße heißt: Jeder ist zugelassen. Das gilt, solange man sich an die Regeln öffentlichen Auftre-
tens hält. Exklusivität misst sich also an der Fähigkeit, nicht irgendwen, sondern die Straße aus-
zuschließen. Also einerseits jedermann, die Plebs, und andererseits den Umstand, dass alles passieren kann, man also nie sicher ist.

Straße ist das schlechthin Mögliche: wo in der Tat, weil alle hindürfen, nichts auszuschließen ist. So dreht sich denn die ganze Geschichte der Straße um die Quadratur des Kreises, universellen Verkehr zuzulassen und möglichst alles, was daraus an Zu- und Unfällen folgen könnte, auszu-
schließen. Alle Einschränkungen, Aus- und Einschlussmaßnahmen beziehen sich darauf, kunstvoll das Mögliche zu dosieren, Kombinationen zu finden, die die erwünschten Vorteile steigern und die Nachteile verringern. So entstehen immer neue Varianten von Straße, und zunehmend Missgebur-
ten.

Der Ausschluss der Plebs und seine letztliche Unmöglichkeit macht den ganzen Städtebau aus. Die Begeisterung unserer neumodernen Intellektuellen für Peripherie, Region, nichtzentrierte, stadt-
unabhängige Teppichurbanisierungen – was ist sie anderes als die neueste Schicht von Arrange-
ments, ins Bad massenhafter Vergesellschaftung zu tauchen, ohne sich den Pelz nass zumachen ? Was ist das Internet, wenn nicht die entgültige Enthebung der Intelligenz aus den Niederungen der Straße? Die Stadtauflösung im Grünen, die Datenautobahn, was sind sie für die normalen Leute, die keine Kapitalmassen von Börse zu Börse umschaufeln, anderes als Hilfsmittel gegen die Straße, gegen den körperlichen Zugriff des und der sozial anderen?

Kein Funktionalismus ist dann als Begründungsvokabular verstaubt genug – das moderne Leben fordert eben neue Formen, du wirst doch nicht wie im Mittelalter wohnen wollen. Abgründe der Demut vor den Sachzwängen modernen technisierten Lebens tun sich auf. Wer nicht das Loblied grüner Peripherie und ebenerdig ins Freie patschender Kinderfüße singt, zieht sich die absurdesten Vorwürfe zu von unsozialer Einstellung bis zu Blockwartmentalität. Dass die Behütung der Kinder-
füße und Vorstadtgemüter vor Straße den täglichen Existenzstau auf der Autobahn bewirkt; dass die durch Teppichurbanisierung erzeugte Mobilität ausschlaggebender Faktor der ökologischen Schieflage ist; dass ein auf unbedingte Mobilität aufgebautes Modell an der nächsten ernsthaften Energiekrise scheitern muss – kein Thema. Man fragt sich, wie das unter Intellektuellen möglich ist. Keine Spur von bösem Willen, es sind Ängste vor Berührung, gegen die erworbene intellektuel-
le Kriterien nichts vermögen, die sich hier durchsetzen.

Der Katalog der Ängste und Versuchungen ist uralt, d.h. frühkindlich, voller mütterlicher Ermah-
nungen. Man erlebt nicht viel auf der Straße, aber man könnte etwas erleben, wenn man zu Fuß gehend sich auf die Straße einlässt. Man könnte unter ungeregelten Verhältnissen angesprochen, in dunkle Geschäfte oder unsittliche Angebote verwickelt werden. Man könnte angebettelt, man könnte überfallen und beraubt werden. Man könnte Armut, Drogenelend, Müll und Gestank an-
treffen. Man könnte von jemandem so angeblickt werden, dass mühsam aufgebaute Grenzen ein-
brechen. Man könnte sich treiben lassen und nicht dort ankommen, wo man erwartet wird, beson-
ders zu Hause. Es könnte einem ein Stein auf den Kopf fallen, ein Ast, man könnte ausrutschen. Man könnte von Autos mit schmutzigem Regenwasser eingedeckt oder angefahren werden. Es könnte jemand Amok laufen, es könnte ein Aufruhr losbrechen, man könnte in hemmungslos drängelnden oder fliehenden Massen erdrückt werden. Die Straße ist ein Raubtier, voller vermu-
teter Gefahr gerade dort, wo sie leer ist, und voller ängstigender und lockender Ausbruchsmöglich-
keiten da, wo sie vor Leben überquillt.

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Der öffentliche Raum hat zwei Mütter, den Ritus und den Aufruhr. In den frühen Städten gibt es Öffentlichkeit nur am Rande. Im Tor sitzen die Geschichtenerzähler, vor dem Tor die Händler. Der erste öffentliche Raum ist heiliger Raum – die Feststraße, auf der die Götter prozedieren. Die Pro-
zession öffnet den verschlossenen, aus privaten undurchdringlichen Agglutinierungen bestehenden Stadtbereich. Das ist, zusammen mit Türmen und Mauern, die erste Sichtbarkeit der Stadt.

Es fehlt aber der altorientalischen Stadt die zeitliche Öffnung. Sie entsteht dort, wo politische Kon-
flikte nicht mehr auf Palast und Tempel beschränkt sind, sondern die Städter aktiv werden, Straße und Platz folglich zu neu aufgehenden Machtorten. Der Sturz der Tyrannis verlegt nicht nur Macht, sondern logiert sie auch neu, es wird Platz geschaffen für die Versammlung berechtigter Bürger.

Schon der mittelalterliche Marktplatz ist kein Platz der Volksentscheide mehr, sondern Handels-
platz, der Rat tagt, repräsentativ und damit am eigenen geschlossenen Ort, Straßen und Plätze werden reguliert. Keine Stadt ohne Aufruhr, Verletzung der öffentlichen Ordnung, doch die Verle-
gung von Außenraum in Innenraum nimmt unwiderruflich ihren Lauf. Die Welt ist komplizierter geworden, städtischer öffentlicher Raum muss sich behaupten gegenüber der personalen Öffent-
lichkeit feudaler Herrschaft. Städtische Freiheiten sind abgeleitet, verliehen. Freiheit heißen in den alten Städten diejenigen Bereiche, wo man unter dem Schutz des Grundherren steht und die bür-
gerliche Gerichtsbarkeit keinen Zugriff hat. Stadtluft andererseits befreit von der feudalen Bindung der einzelnen ans Land.

Der neuzeitliche Territorialstaat verschärfte den Widerspruch von materiellen Räumen und sich entziehender Herrschaft durch die Verstaatlichung der Städte. Die Stadträume werden systema-
tisch durch Achsen und Plätze gelichtet, eine Neugeburt öffentlichen Raumes, aber als Ästhetik – der in so großem Maßstab produzierte öffentliche Raum ist Bühnenraum, auf dem sich eine Stän-
degesellschaft bloß darstellt. Das Volk drängt sich an den Rändern, von Zeit zu Zeit poltert es hinein, wirft Scheiben ein, plündert. Der Mob gehört dazu.

Man macht sich auch nicht klar, wie reglementiert die Straßen noch des 19. Jahrhunderts sind: Staatliche Kontrolle des Volkes, der Schutzmann an der Ecke, der beide sich kreuzenden Straßen einsieht, und die Kasernen an den großen Ausfallstraßen. Ein, zwei Mal im Jahrhundert stellt die Revolution dem die Technik der Barrikade entgegen, die Straße wird als Engpass genutzt und an geeigneter Stelle quergeteilt in befreundetes und feindliches Territorium.

Beide Techniken haben bereits ein instrumentelles Verhältnis zum öffentlichen Raum. Was sie in der liberalen Stadt ablöst, ist nicht der bürgerliche Griff nach der Straße – das Bürgertum macht sich, anders als der Adel, nicht mehr körperlich greifbar, sondern entfaltet Öffentlichkeit in den Innenräumen der Häuser und Köpfe -, sondern die moderne Mobilität, der Verkehr.

Heute sind die Straßen so allgemein zugänglich und werden so wenig öffentlich genutzt wie nie zuvor. Die allgemeinste Nutzung, durchs Auto, vernichtet Öffentlichkeit, statt welche herzustellen, und was sich an Nutzungen vor dem Verkehr in Sicherheit bringt, verliert eben dadurch, dass es sich in Sicherheit bringt, seine Öffentlichkeit. Es gibt keine Aussicht auf Ausnahmen, auf Feste und Revolten, die die Institutionalisierung von Öffentlichkeit wiederholten. Es gibt allenfalls Kinder-
gärten solcher Akte : Straßenfeste und Demonstrationen.

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Die Demonstration ist ein schwieriges Mittleres zwischen Prozession und Aufruhr. Die Prozession ist zyklisch angelegt, es hängt alles davon ab, dass es genau so gemacht wird wie vor einem Jahr und vor hundert Jahren. Nicht Änderung, sondern Erhaltung des bestehenden Laufs der Dinge soll bewirkt werden. Der Aufruhr umgekehrt will alles anders machen, und weil Veränderung kompli-
ziert ist und nur über längere Zeiträume verläuft, braucht er deutliche Zeichen und schnelle Befrie-
digung. Der Aufruhr hat sein Ziel erst erreicht, wenn die Bastille zerstört ist, wenn Blut, Feuer, Fenstersturz, Zerstreuung des Mobiliars und Vernichtung von Akten Unumkehrbarkeit anzeigen.

Demos sollen Veränderung bewirken, aber nicht zu Entladungen führen. Jede Demo sagt: Die Zeit der Revolten ist vorbei, nur schrittweise, mit Disziplin, Anstand und Sauberkeit, unter den rich-
tigen Parolen, geht es voran. Die Demo ist ein Kind des Reformismus, voll Angst vor dem bösen Ende, das sie, aus erregbaren, einander oft fremden Individuen bestehend, leicht nehmen könnte.

Ihre Wirkungsweise ist eher die der Prozession, durch Ritual, Menge, Weg, mitgeführte Zeichen die Macht zu besserer Einsicht zu bewegen. Aber sie ist auch nicht mehr katholisch. Der Glaube an die Wirkung der Form ist schwach, und die Wiederholung bestärkt nicht, sondern ermüdet und beweist die Vergeblichkeit des guten Willens. Demos sind gekappte Akte, Kadenzen, die sich die Rückkehr zum Grundton verboten haben, wirksam nur, solange kein Ritual, erlaubt nur, solange der Sturm auf die Bastille unterbleibt. Das ist der traurige Zirkel, in den die klassische Demo, wie wir sie kennen und lieben lernten, eingesperrt war.

Geblieben ist ein Nachdruck des Sichzeigens. Der lebt nicht mehr von gesellschaftlicher Funktion, sondern von der Häufung privater Betroffenheiten, die kein Nichtbetroffener sehen will. Dem Zeigen entspricht kein Zuschauen und Mittragen. Der Nachdruck verpufft, weil er privat ist und öffentliche Resonanz zwar will, aber nicht selber miterzeugt. Man fotografiert sich selber. Wenn man Glück hat, ist das Fernsehen da, weil es vielleicht Randale gibt.

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Die parteiliche Demonstration ist tot. Heute demonstrieren nur noch alle – das Volk sind wir – , oder nur Verzweifelte. Häufiger Verzweifelte: Bauarbeiter, Stahlarbeiter, Jugendliche. Deshalb verschiebt sich der Ton weg vom Pol Prozession und hin zum Pol Aufruhr. Es muss etwas pas-
sieren. Passieren kann in dieser wattegepolsterten bürokratischen Welt außer Unfällen kaum noch etwas. Als Ausdruck sind alle Zeichen verbraucht. Was übrigbleibt, ist das körperliche Überschrei-
ten von Grenzen – Erstürmung der ReichstagsbausteIle, Vordringen zum Parteibüro, symbolisches oder – bei den autonomen, antifaschistischen usw. Jugendlichen – wirkliches Anzünden (Autos, Supermärkte).

Indem die Demo aus dem Ritual heraustritt und auf Fassbarkeit und Unmittelbarkeit hin gravi-
tiert, gerät sie zusätzlich in den Widerspruch von fasslichen Mitteln und Nichtfassbarkeit des Konflikts. Die brennenden privaten Autos sind nicht das wirkliche Ziel, Schweinesystem, des schwarzen Blocks. Die EG-Niedriglohnarbeiter, auf die die Berliner Bauarbeiter beim Sturm auf die Reichstagsbaustelle trafen, waren nicht der Kern ihres Problems. Die belagerten Politiker sind nicht die Autoren der Globalisierung, der Zechen- und Hüttenschließungen, der Steuerausfälle, sondern hilflose subalterne Verwalter der davon losgetretenen Konflikte. Sie zu beeindrucken, trifft nicht den Kern der Sache. Aber man wollte etwas tun.

Es fällt einem immer leichter, die Achseln zu zucken und sich nicht angesprochen zu fühlen.

Der neue Demonstrant hat sich vorher auch schon um seine Bühne gebracht, die Straße. Man pro-
duziert nicht neue Straßenöffentlichkeit, sondern konsumiert übriggebliebene. Sollte es anders sein, müsste man die Straße auch für andere in Anspruch nehmen. Der Bau- oder Stahlarbeiter zieht sich als Demonstranten selber den Boden unter den Füßen weg, indem er als Autofahrer mehr Abbiegespuren und weniger Geschwindigkeitsbegrenzungen will und als Einkaufender ins Einkaufszentrum vor der Stadt fahrt oder zum Erlebniskauf die nächste mall aufsucht. Erst als Demonstrant steht er unvermittelt auf der anderen Seite, auf einem Terrain, das er nie der Ver-
teidigung für wert gehalten hat. Er beansprucht ein Recht der Ausnahme, das er sonst bestreitet. Nicht anders die Autonomen. Für sie war die Demo demokratiebeflissener grüner Lehrer allemal nur ein Trittbrett. Man nutzt es, und wenn man den Dusseln damit noch schadet, um so besser. Demonstrieren sie dann für sich selber, verlieren sie sich in der Straße wie in einer ihnen fremden Kategorie.

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Das Veralten der Demo setzt eine Serie von Ab- und Auflösungen in Gang. Alle nur irgend lösli-
chen, atomisierbaren Bestandteile der Demonstration lösen sich voneinander und gehen eigene Wege.

1. Zeigen: Das Zeigen verselbständigt sich gegenüber dem, was es zeigen soll. Auf dem Zeigen liegt der Druck, medial anzukommen. So ist das Zeigen an Ort und Stelle nur der Anlass, um in die Medien zu kommen, das Ereignis verschiebt sich vom Veranstalten und Dabeisein zum Erfolg erreichter Berichterstattung. Der Anstrengung, in die Medien zu kommen, ist jedes Mittel recht, es sind also immer heftigere und immer verwechselbarere Mittel. Die Sache, um die es geht, kommt im Prozess des Zeigens immer weniger vor.

2. Strategie: Wer wirklich etwas erreichen will, demonstriert nicht primär, sondern macht eine Kampagne. Dafür entwickelt er eine in längeren Zeiträumen zu entfaltende Strategie. Innerhalb dieser können bei geeigneter Sache auch Demo-Elemente zum Zuge kommen, die Straße, das Zeigen. Was man als Teilziel will, ist z.B. die Blockierung einer Zufahrt. Das zeigt zum einen, wo-
rum es geht, zum anderen erzeugt es ein taktisches Ergebnis, das des Zeit- und Energieverlustes für den Gegner.

3. Affekte: Die Affekte werden weder beim Zeigen noch in der Strategie wirklich gebraucht. Sie kommen also nur noch im Zustand der Hilflosigkeit zu sich, da, wo die Kälte von Strategie und Zeigetechniken nicht da ist oder nichts dem Druck der Erwartung Entsprechendes erreichen kann.

4. Straße: Das demonstrative Laufen auf einer Straße ist ein Ausnahmezustand, der z.T. in seiner Peinlichkeit umgangen wird – Fahrraddemo, Autokorso -, z.T. aus reinem Trotz wahrgenommen wird. Denn das größte Ergebnis an Bemerktwerden erreicht eine Demo nicht durch das, was sie zeigt und will, dadurch, dass Individuen öffentlich sich bekunden, sondern als Verkehrshindernis. Ein Abstoßungseffekt zwischen Funktionalisierung der Straße und sich selber unwahrscheinlich gewordenem öffentlichen Anspruch. Es muss nicht weniger als das Volk/die Opposition auf die Straße gehen, damit dieser Anspruch gegen die Funktionalisierung ankommt.

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Dazu gibt es einen aufschlussreichen Kommentar: die Hysterie, mit der heute allenthalben der öffentliche Raum beschworen wird. Lokalpolitiker, Künstler, Planer, Gärtner, Investoren über-
bieten sich in Wertschätzung. Gemeint ist Ästhetik: Bummeln, Einkaufen, Straßenfeste, Grün. Demonstrative Störungen werden nicht mehr erwartet.

Wer sich für Teilziele, etwa ein wenig mehr Bewegungsfreiheit des Fußgängers gegenüber dem Auto, ins Zeug legt, hat dann schlechte Karten – viel zu wenig. Der ganze große öffentliche Raum muss es sein. Je geringer die Chance, Räume öffentlich und Öffentlichkeit räumlich zu erhalten, je weniger Raum und Öffentlichkeit überhaupt, desto großzügiger die Ansprüche. Die Forderung öffentlichen Raums steht genau an der Stelle, an der früher die hohen sozialen Forderungen stan-
den, geschichtslos und sozial ahnungslos wie eh und je.

Völlig ungeklärt bleibt, welche Öffentlichkeit man denn nun gerade will. Bewegt man sich erst einmal auf der Ebene der Projektionen, dann stehen recht widersprüchliche Möglichkeiten zur Auswahl. Wir haben eine griechische Tradition im Kopf – Öffentlichkeit als Agora. Dass das heute nur noch im Internet geht, zeigt, dass es gar nicht mehr geht. Die zweite Tradition ist die römische, das Ornament der Plebs. Spätestens seit dem Faschismus kann dieses Modell als erledigt gelten, selbst in China. Wir haben eine jüdisch-christliche Tradition aufgeschobener Öffentlichkeit, als endzeitliche Offenlegung der Geschichtskonten. Auch das geht nicht mehr, seit der Wohlfahrtsstaat alles gut gemacht hat und daran bankrott gegangen ist. Und vergessen wir nicht die germanische Tradition, sich in freier Natur, unter einem Baum zu versammeln – was zerstörte heute mehr den öffentlichen Raum als der bewusstlose Drang ins Grüne?

Es sind unsere Ideen von Öffentlichkeit, die nicht mehr funktionieren. Das germanische Ting unter einem alten Baum war so öffentlich wie die Athener Agora oder der Sportpalast. Die Intellektuellen wollen heute nur die Agora. Dabei ist die Agora, ihren räumlichen wie gesellschaftlichen Möglich-
keiten nach – Kleinstadt, Sklavenhaltung, Einheit von Stadt und Land – nicht aktueller als das germanische Ting. Aktueller ist der Sportpalast, die tobende Masse. Davor herrscht Angst. Aber auch der Sportpalast ist heute nicht mehr möglich.

Dass man vor der regressiven Öffentlichkeit des Sportpalastes so wenig mehr Angst haben muss wie vor der progressiven der Guillotine, hat mit einem Rationalisierungsfortschritt zu tun, der fortwährend Äußerungsmöglichkeiten zerstört, nicht aber die Energien, die darin öffentlich auf-
traten. Angst davor, dass die faschistische Masse wiederkehrt, ist so kurzsichtig wie der Glaube, damit sei auch der alte Zusammenhang von Öffentlichsein und Zerstörenwollen weg. Öffentlichkeit wäre, würde man ihrer habhaft, nach wie vor kein liberales Idyll, sondern eine gefährliche Sache.

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Wenn man nicht mit dem Ausnahmezustand operieren will, Wiederkehr der Straße, was dann? Vermutlich muss man Erwartungen und Perspektiven ändern, um sehen zu können, wo der ver-
lorene Faden wieder auftaucht. Wir verstellen uns das Gesuchte durchs Suchen unter veralteten Vorzeichen. Aber woher nimmt man bessere? Der bloße Sprung in technische Beschleunigung – Politik im Netz – führt noch viel sicherer in den alten Zusammenhang zurück: Technik ist die Realisierung der Träume von gestern mit den Mitteln von morgen.

Angesichts der Verselbständigung der Bestandteile liegt es nahe, nach ihrem Wiederauftreten Aus-
schau zu halten. Jede Gesellschaft entwickelt zwangsläufig Mittel, Unzufriedenheit nicht nur zu empfinden, sondern auch auszudrücken. So gibt es Mittel auch da, wo eine städtische Öffentlich-
keit im Sinne der europäischen Stadt nicht vorhanden ist. In der islamischen Stadt z.B., seit den Zeiten Harun al Raschids, gab es das Murren des Basars. Heute kommen dort soziale Bewegungen, fundamentalistisch gepolt, aus den Koranschulen und Moscheen und erobern Straßen und Fern-
sehschirme – Zeichen wegbrechender Grundlagen.

Unternehme ich die Anstrengung, mit der Frage nach dem Wiederauftauchen des Fadens im Kopf, unsere Gesellschaft versuchsweise von außen zu betrachten, als Ethnologe, muss es mir völlig ab-
surd erscheinen, besagte Mittel in Sälen zu vermuten, wo gut bezahlte Leute vor laufender Fern-
sehkamera Fremdwörter und Drohungen austauschen. Ich würde mich auch gegen eine Vulgäreth-
nologie verwahren, die glaubte, in unserer Gesellschaft unbedingt strukturelle Äquivalente für die Rituale früher Gesellschaften zu finden, für Totem und Tabu. So ist davon auszugehen, dass Fuß-
ballspiele, auch solche, die in allgemeine Randale münden, nicht das zentrale gesellschaftliche Organ sind, um sich en masse über die Zustände zu beklagen.

Was dann? Die letzte gemeinsame Ebene, auf der die Gesellschaft zu gleicher Zeit sich entöffent-
licht und doch auch noch ihrer ansichtig wird, ist der Autoverkehr. Verkehr ist die einzige greifbare Allgemeinheit überhaupt, die Grundskala für Demokratie. Er hat inzwischen alle anderen Mas-
senerfahrungen überholt, weggedrängt, ersetzt. Was im 19. Jahrhundert noch zu Fuß in den Stra-
ßen der großen Städte verstörte, das scheinbar endlose Aneinandervorbei, die zielstrebige Bewe-
gung vieler, die sich alle unbekannt und hinsichtlich der Ziele und Herkunft gleich fremd sind und nichts gemeinsam haben, als dass sie die Masse formen, in der sie zugleich schwimmen wie der Fisch im Wasser – diese Grunderfahrung der Moderne ist heute nur noch im Auto aktuell.

Es ist auch gar nicht wahr, dass der Autoverkehr tatsächlich kommunikationslose Kommunikation sei. Nirgendwo ist so viel kollektiver gesellschaftlicher Ausdruck wie hier, seit nicht mehr einmal pro Generation die Männer in den Krieg ziehen und die Frauen Scharpie zupfen, Silberlöffel zum Einschmelzen abgeben und Heldensöhne beweinen. Der Autoverkehr zeigt einem, kommt man aus einem anderen Land, die Stimmung der Nation, und nirgendwo kann man den Puls einzelner Städ-
te so genau fühlen wie auf ihren Straßen. Politisch-kulturelle Grundverständnisse stellen sich hier ebenso dar wie vorübergehende Affektballungen.

Nur ist das eine wahrhaft demokratisierte Öffentlichkeit, der der Kopf und damit die intellektuelle Andockstelle fehlt. Man nimmt sich die Stadt, statt sich, wie bisher, in ihr – Ausnahmen einge-
schlossen – dirigieren zu lassen. Der Straßenverkehr kennt keine Revolte. Er ist der Kurzschluss der beiden Pole Prozession und Aufruhr, die den öffentlichen Raum einst freisetzten. Er ist die permanente Demonstration.

Lässt sich damit etwas anfangen? Ich weiß nicht. Jedenfalls lässt diese Aussicht Fragen in der Luft schwirren, die man gar nicht auf einmal greifen und zusammenkriegen kann. Zurück also, als Suchanordnung, zu den gelöst umherschwirrenden Elementen der untergegangenen Demonstra-
tionsöffentlichkeit: Was hat man damit gefunden?

Man hat die Straße gefunden, untergegangen in einem einzigen Zweck, aber die einzige gesell-
schaftliche Bühne, auf der Krieg und Frieden noch life und im Maßstab 1 : 1 gespielt werden. Man hat Affekte gefunden, die strikt privat gegen andere gewendet werden, weil die wirklichen Ziele nicht angreifbar sind, dies aber in dem einzigen öffentlichen Medium, das mit dem Fernsehen konkurrieren kann und gegen das das Internet allezeit eine Krücke bleiben wird. Man hat ein Sichzeigen gefunden, das sich in der verzweifelten Anonymität der motorisierten Masse schon deshalb verliert, weil man den Führerschein behalten will, sich aber gleichwohl in der Arena der Straße hervortut wie Kaiser Rotbart an der Spitze des dritten Kreuzzuges.

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Straße war zu allen Zeiten die materielle Basis von Öffentlichkeit. Gegenständlich denkend, hat man keinesfalls die Wahl der Substrate: Straße oder Internet, sondern das Problem der Defizienz beider – aus entgegengesetzten Gründen scheiternden – Öffentlichkeitsbühnen. Was dazwischen kaputtgegangen ist, ist der öffentliche Raum.

Öffentlichkeit konkreter zu fassen, auf Raum rekurrierend, ist nun nachträglich, aus Reue, nicht mehr möglich, so wenig wie man gegen die Beschleunigung aller Verhältnisse Langsamkeit wieder-
holen kann. Und beides hängt zusammen. Beispielsweise schreibe ich dies auf dem Laptop im ICE, reines Glück, dass ich mich nicht im Flugzeug erwische. Man muss mit Resten rechnen und sich auf die entsprechenden Halbheiten einstellen. Ja, es gibt die Straße noch, die Enträumlichung ist insofern, wie alle Utopie, gescheitert. Aber gleichzeitig ist der Raum zerstört worden. Bleiben die Scherben.

Zuerst die Straße: Dass jeder zu ihr Zutritt haben soll, solange er andere nicht beschädigt, ist die letzte nicht in Verkehr oder Einkaufen aufgehende Funktion der Straße. Andere öffentliche Asyl-
orte gibt es nicht mehr, was sich so nennt, dient gerade umgekehrt dazu, die unerwünschten Personen aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Unter de Gaulles wurden in Paris die Clochards deportiert, ähnlich bringt man heute in Moskau aufgegriffene Bettler 200 Kilometer weg und setzt sie in offener Tundra aus. Der übliche Wachschutz für Einkaufsstraßen ist noch die zivilste Form.

Zweitens die abgelösten Affekte: Wo ist mein Interesse daran? Die Nicht-Öffentlichkeit der Stra-
ßenbenutzung ist die letzte interessante Öffentlichkeit. Die Leute, die auf der Straße liegen, sind die, die es, mit Recht oder Unrecht, müde sind mitzurennen. Genauso, wer es müde ist, mit der Geschwindigkeit der Medien mitzurennen, um öffentlich zu erscheinen – er ist, solange er sich nicht selber einsperren will, auf die Straße angewiesen, Flaneur malgré lui. Mit der Straße würde ich meine Wurzeln abschneiden. Für sie würde ich auch demonstrieren.

Eine ernsthafte Strategie (drittens) zugänglichen städtischen Raumes muss ihre Verfechter erst noch finden. Als erstes wird man die falschen Freunde loswerden: Sobald man die Verniedlichung des Wohnumfelds streicht, wird man für die Straße keine, schon gar keine linke oder grüne Mehr-
heit, mobilisieren. Man muss sich andere Bündnispartner suchen, innerhalb diffuser Partialbünd-
nisse, Autofahrerinteressen gegen Stadtverwaldung, Bauinteressen gegen Autofahren, Grün- und Rauminteressen gegen Bauen usw., eine sich selbst berichtigende Spirale, die vielleicht sogar de-
monstrativ wird.

Zuletzt der Restbestand des Zeigens: In diesem Punkt des Aufenthaltsrechtes ist das wirksamste Zeigen das absichtslose Sichsehenlassen der Unerwünschten. Da passt etwas wieder zusammen. Private Mediendistanz reicht nie und nimmer aus, um räumliche Öffentlichkeit zu behaupten. Ver-
bündet der intellektuelle Bedarf an medienresistenter Räumlichkeit sich mit dem Aufenthaltsrecht aller auf der Straße, dann sind das schon zwei Interessen. Andere kommen wahrscheinlich noch hinzu.

Dieter Hoffmann-Axthelm


Ästhetik und Kommunikation 99 vom Dezember 1997, 15 ff.

Überraschung

Jahr: 1997
Bereich: Lebensart

Referenzen