Materialien 1997

Das Ende der Solidarität

Seehofers Strukturmaßnahmen gefährden die Versorgung
von HIV-Positiven und AIDS-Kranken
ACT UP München zu AIDS und staatlicher Sparpolitik

Unbestreitbarer Zweck eines Gesundheitssystems ist es, die notwendige medizinische Versorgung von allen sicherzustellen. Wenn eine Gesellschaft einen Strukturwandel durchläuft, dann ist eine Reform des Gesundheitssystems dahingehend notwendig, dass es diese Versorgung auch unter den veränderten Umständen gewährleisten kann. Das führt unweigerlich zur Diskussion darüber, was notwendig ist und was nicht. Bei aller Berechtigung einer solchen Diskussion ist folgendes zu beachten:

1. Der Zweck des Gesundheitswesens selbst darf nicht zur Diskussion stehen.

2. Einsparungen an der falschen Stelle sind tödlich.

3. Eine Umstrukturierung, die das verkennt, ist ebenso fatal wie der Verfall des Bestehenden.

Die Praxis sieht jedoch düster aus. Statt einer mittelfristigen Sicherstellung der Versorgung steht das Füllen finanzieller Löchern mit Blick auf Maastricht im Vordergrund. Was sich selbst als Gesundheitsreform bezeichnet, ist in Wirklichkeit die Zerschlagung der bestehenden Solidargemeinschaft. In der Folge verringert sich nicht nur die Bereitschaft der Einzelnen, anderen aus dem gemeinsamen Topf etwas abzugeben. Vielmehr erhöht sich auch die eigene Bedürftigkeit, was die Möglichkeit zu teilen weiter einschränkt. Die, die eine solche Verelendung als erste zu spüren bekommen werden, sind chronisch schwerkranke Menschen, darunter auch solche mit HIV und AIDS.

Wurden Sie bereits durch die Einführung der Pflegeversicherung benachteiligt, die sich an klassischen Familien- und Heimstrukturen orientierte, was auf Menschen mit HIV und AIDS meist nicht zutrifft, so treffen sie die geplanten Kürzungen der ambulanten Pflege und Versorgung besonders hart. Sie bedeuten für Menschen mit HIV und AIDS einen weiteren Wegfall notwendiger Leistungen und einen zusätzlichen Verlust eigener Identität und Lebensqualität.

Hier kommen die Leistungen der Krankenkassen ins Spiel. Derart unter Druck werden sie die zukünftig „freiwilligen Leistungen“ streichen, mag Herr Seehofer auch noch so oft das Gegenteil behaupten. Eine Massage selbst zahlen zu müssen, mag für viele PatientInnen unangenehm sein und manche sogar in Bedrängnis bringen. Menschen mit HIV und AIDS jedoch haben nur eine Chance zu leben, wenn die notwendigen Leistungen gezahlt werden.

Die Verfügbarkeit neuer retroviraler Medikamente (Medikamente zur Bekämpfung einer Familie von Viren, zu denen auch das HI-Virus gehört) wie etwa Protease-Inhibitoren (sie hemmen ein für die Vermehrung des HI-Virus wichtiges Enzym) bedeutet zusammen mit den neuen Diagnostik-Möglichkeiten der Viruslastbestimmung (Bestimmung der Anzahl von Kopien von Virus-Erbinformationen in einer bestimmten Menge Blut) und Resistenzmessung insofern einen Durchbruch, da AIDS nach allen bisherigen medizinischen Daten zumindest behandelbar geworden ist. Behandelbarkeit bedeutet nicht Heilung, bedeutet nicht, dass die Behandlung bei jedem wirkt, bedeutet auch die Gefahr von Nebenwirkungen: Und dennoch gibt es eine realistische Hoffnung, eine gute Chance, länger zu leben und sich dabei eine Lebensqualität zu erhalten, die von bloßem Dahinvegetieren weit entfernt ist.

Die Kosten einer solchen Medikamentierung mit rund 3.000 DM pro PatientIn und Monat zu veranschlagen, ist realistisch. Zudem spricht sich die überwiegende Mehrheit der ExpertInnen aufgrund der heute verfügbaren Daten dafür aus, möglichst früh mit einer antiviralen Therapie zu beginnen, also lange vor dem Vollbild AIDS. Die monatlichen Kosten summieren sich also über eine lange Zeit. Doch damit nicht genug. Die ExpertInnen sind sich ebenfalls darin einig, dass nur eine individualisierte Therapie den erwünschten Erfolg verspricht.

Was heißt individualisierte Therapie? Sie verlangt zunächst einmal eine umfangreiche Beratung der PatientInnen. Heutige antivirale Therapie ist Chemotherapie, beinhaltet also die Möglichkeit aller unangenehmen und gefährlichen Nebenwirkungen und kann nur dann gelingen, wenn die PatientInnen wissen, was auf sie zukommt. Wichtig ist außerdem eine regelmäßige und umfangreiche Diagnostik: Wie genau sehen die Nebenwirkungen aus? Welche Resistenzen bilden sich? Sind die Einnahmemodalitäten für diesen Patienten, diese Patientin realistisch? Oder sollte eine andere Kombinationstherapie gewählt werden? Wie sind die Werte? Ein Arzt kann einer solchen Beratung nur gerecht werden, wenn er oder sie ausreichend Erfahrung besitzt, sich genug Zeit für die PatientInnen nehmen kann und ständig auf dem neuesten Erkenntnisstand bleibt. Denn der Virus und die Krankheit sind immer noch Neuland. Das Wissen verdoppelt sich regelmäßig, die Therapie von heute ist oft schon morgen ein alter Hut. Wer hier nicht auf dem neuesten Stand ist, bedeutet eine tödliche Gefahr für seine PatientInnen. Auch diese Beratung und Diagnostik kosten viel Geld. Und sie werden nicht billiger werden. Eher das Gegenteil ist zu erwarten.

Die Kosten für die Medikamente, die Beratung und die Diagnostik sprengen bereits jetzt das zugelassene Budget jeder durchschnittlichen Praxis. Natürlich besitzen Schwerpunktpraxen für HIV und AIDS eine andere Deckelung, d.h. sie erhalten mehr Leistungen von den Krankenkassen vergütet als andere Praxen und sind also besser ausgestattet. Doch wie lange noch? Ihre Mittel stammen nämlich aus demselben Topf wie die aller anderen Praxen. Wenn der Topf kleiner wird, die Zahl der Kranken jedoch nicht, wird die notwendige Versorgung schnell in Gefahr sein. Denn viel ist hier nicht mehr einzusparen: Hausbesuche und anderen „Luxus“ gibt es schon heute fast nicht mehr. Schlimmer noch ist die Situation außerhalb der Ballungsräume, besonders in ländlichen Gebieten, wo Schwerpunktpraxen nicht existieren oder wirtschaftlich nicht lebensfähig sind. Ist es heute schon schwer, hier kompetente Ärzte zu finden, so wird eine weitere Budgetierung die Behandlung von PatientInnen mit HIV und AIDS in diesen Praxen vollends unmöglich machen. Diese Leute müssen dann wegen ihrer Behandlung in eine Stadt ziehen, verlieren ihre gewohnte Umgebung und belasten das Budget der Kliniken und Schwerpunktpraxen in den Städten zusätzlich.

Wie ist die Situation in den Kliniken? Viele Immunambulanzen müssen ihre Personalkosten bereits heute durch Forschungsgelder aus Studien der Industrie finanzieren. Die Industrie an den Kosten zu beteiligen, insbesondere wenn sie aus den Ergebnissen direkten wirtschaftlichen Nutzen ziehen kann, werden viele befürworten. Eine freiwillige, jederzeit änderbare Leistung der Industrie bietet jedoch keine auf Dauer sichergestellte Versorgung. Die Situation in den USA beweist, dass Kliniken und ihre Ambulanzen zum Auffangbecken all der PatientInnen werden, die aus der Versorgung in Praxen herausfallen. Ganz ähnlich wird auch hier die Belastung steigen, während gleichzeitig der verordnete Sparzwang vor den Kliniken nicht halt macht. Das kann nicht funktionieren.

Ein Glück, dass es bei der staatlichen Förderung der AIDS-Forschung nicht viel zu kürzen gibt. Die Mittel für diesen HighTech-Forschungsbereich sind derart gering, dass man meinen könnte, wir wären ein Billiglohnland und nicht eine der reichsten Nationen der Welt.

An jedem Welt-AIDS-Tag bekundet die Politik ihre Solidarität mit Menschen mit HIV und AIDS. Zugleich zerschlägt die geplante sogenannte Reform die Gemeinschaft, die eine solche Solidarität tragen könnte. Damit nicht genug: Obwohl unsere Gesellschaft die Gesundheit und damit auch die Therapie von Krankheiten als wichtiges Rechtsgut ansieht, wird sie zur Disposition gestellt. Für Menschen mit HIV und AIDS heißt das, dass die neue Hoffnung der medizinischen Behandelbarkeit nicht bezahlbar ist. Welch Ironie. Richtig ist: Veränderung tut not. Der vernünftige Einsatz der vorhandenen Ressourcen ist die Wahrnehmung übertragener politischer Verantwortung, die auch als solche bezeichnet werden darf. AIDS und andere Krankheiten sind ein Krieg, der bereits Tote fordert. Es ist höchste Zeit, hier die richtigen Prioritäten zu setzen!

„Eine Welt – eine Hoffnung“ war das Motto des Welt-AIDS-Tages 1996. In der sogenannten 1. Welt wird Solidarität vorgegaukelt und Hoffnung verschaukelt. Die sogenannte 3. Welt hat noch nicht einmal Hoffnung. Während wir vor Kürzungen bangen, gibt es dort rein gar nichts zu kürzen. Nicht einmal die längst überholte AZT-Monotherapie hat ihren Weg dorthin gefunden. Außer für wenige Privilegierte existiert eine Therapie in unserem Sinne nicht.

ACT UP
FIGHT BACK
FIGHT AIDS

Adrian Wiedenmann
ACT UP München
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Ickstattstraße 2
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Fax 089-485305


zweite hilfe. Hysterieblatt für die absteigenden Mittelschichten, Frühjahr 1997, 82 f.

Überraschung

Jahr: 1997
Bereich: Schwule/Lesben

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