Materialien 1997

Zeit für andere

Wie ich in die Türkenstraße kam? Durch den Johannes Schaaf, mit dem ich damals, Anfang der 70-er Jahre gerade >Trotta< drehte. Er hatte bereits eine Wohnung auf 59 und als die Klofrau, genau, die vom Klohäusl gegenüber, wo jetzt der Bezirksausschuss drin ist und wo eine Zeitlang der Mathias, unser Penner, gewohnt hatte, als die Frau Bauer gestorben war, hat er mich gefragt, ob ich nicht die Wohnung wolle.

Die Hausbesitzerin Frau Burghard hat mich dann auch genommen, nur renovieren müsste ich selber, hat sie gemeint. Ich hab’ dann ein Jahr renoviert und bin im November 1982 eingezogen. Ich wohne im 4. Stock, das sind 91 Stufen, vier- bis fünfmal am Tag. Das hält gesund, angeblich (lacht). Ich will schließlich hundert werden.

Wir sind ein besonderes Haus. Da muss ich die Frau Burghard loben: sie hat nur hereingenom-
men, wer ihr gefiel.

Da gibt es Leute von Film und Fernsehen, eine Malerin, eine Übersetzerin, den Geigenbauer mit Familie, einen Kunsttransporteur und Musiker, die Italiener von der Adria-Eisdiele und der Till mit seinen Antiquitäten. Und wir alle geben uns irgendwie Mühe, den Charme von Haus und Gar-
ten zu erhalten. Jeder pusselt da irgendwie herum. Es ist nicht unser Haus, aber irgendwie ist es doch unser Haus.

Die Hausbesitzerin ist inzwischen über neunzig und ziemlich krank. In der Wohnung ihr gegen-
über wohnt ein Pfleger, das ist wichtig, dass immer einer da ist. Sonst kümmern sich rund um die Uhr fünf Leute um sie. Nicht wir Mieter, aber wir organisieren es.

Unser Haus stammt aus dem Jahr 1871. Ich habe die alten Pläne. Da war früher, nach dem Krieg, ein Cafehaus drin und das Haus hatte drei Eingänge. Das Hinterhaus, ein Schrägbau, ist viel älter. Da war früher eine Kohlenhandlung drin und im Garten sprang ein Pferd herum zwischen Hüh-
nern und Gänsen.

Ich bin ja viel in der Welt herumgekommen und habe mich immer irgendwie zuhause gefühlt. Aber hierher zurückkommen, das ist Heimat. Da fühle ich mich wohl, das ist meins.

Da geh’ ich runter und kauf’ mir meine Semmeln, kauf’ mir meine Abendzeitung, das will ich alles nicht gebracht kriegen.

Meine Fenster gehen nach Osten und Westen. Im Westen schau’ ich hinunter auf unseren Garten mit Birken, Ahorn und Holler. Mit den Werkstätten, wo auch schon der Elser gearbeitet hat, mit der Schaukel und dem Hasen Hans.

Im Osten schau’ ich auf die Kastanie, eine richtige Rosskastanie, 130 Jahre alt. In beiden Weltkrie-
gen hat sie gerade mal einen Ast eingebüßt. Sie ist fast zwanzig Meter hoch, geschützt von den um-
gebenden Gebäuden.

Wenn der Wind die Akazien auf dem Elser-Platz daneben biegt, rauscht es oben nur ein bisschen in ihren Blättern. Sie steht stark und fest in einem erhöhten Extrabeet, zehn auf zwanzig Meter. Wir kennen uns jetzt schon über zwanzig Jahre.

Es war im Dezember 1997, ich kam vom Drehen und freute mich wie ein Schneekönig auf zuhause, als mir die Kiermeierin vom LottoToto im Haus erzählte, dass die Kastanie gefällt werden solle, das habe schon in der Zeitung gestanden.

>Das kann nicht sein,< sagte ich, >das ist sicher nur ein Gerücht.< Ich schlief die ganze Nacht nicht. Am Morgen ging ich zur Kastanie und versprach ihr: >Das darf nicht sein, das wird nicht sein!<

Dann bin ich zum Bezirksausschuss, habe die Zeitungen angemacht und die Bürger der Türken-
straße. Die kamen dann auch zur nächsten BA-Sitzung, ich hatte einen Dringlichkeitsantrag ge-
stellt.

Da kam die Baumbeauftragte mit einem Gutachten der Firma Schön daher, handgeschrieben, eine Seite. Des Inhalts, dass der Baum sowieso bald umfallen würde und die Äste Schulkinder erschla-
gen könnten.

Ich ließ mir vom Gartenbaureferat Gutachter nennen und beauftragte dann Herrn Brudy: die Stadt will den Baum abhacken, die Bürger wollen ihn erhalten. Prüfen sie bitte! – >Fünftausend Mark,< sagte er.

Inzwischen bemalten wir ein Betttuch: Rettet mich, ich soll abgehackt werden! und hängten es in den Baum.

Bei der Frau Kiermeier legte ich Flugblätter auf und eine Liste. Dann fingen die Leute an zu spen-
den. Die 5.000 Mark sind leicht zusammengekommen. Selbst wenn nicht, hätte ich das Geld ge-
zahlt. Dann begann der Brudy mit seiner Prüfung.

Zwei Tage war er mit drei Leuten und einer Windsimulationsmaschine am Elser-Platz voll be-
schäftigt. Da mussten die Leute schwere Stahltrossen im Baum anbringen, an Ästen und Zweigen. Am Stamm hat er dann gemessen, was passiert, wenn mit Windstärke 12 darauf geblasen wird.

Dann hat er sein 25-seitiges Gutachten geschrieben: dass die Kastanie gesund sei und gut und gern noch zehn Jahre weiterleben könne. Fünf sind jetzt vorbei. Im Januar 2004 wird er ein Folgegut-
achten erstellen.

Als die Stadt Brudi’s Gutachten akzeptiert hatte, spendete der OB Ude noch einmal 5.000 Mark zur Erhaltung unserer Kastanie. Jetzt kommt immer jemand vom Gartenbauamt und sieht nach dem Rechten. Nur heuer nicht wegen der Baustelle.

Da habe ich den Mulch, im Herbst 2002 war das, der bedeckt von Gips war, aufgehackt, eine Sau-
arbeit. Dreimal im Jahr habe ich den Baum mit Biodünger düngen lassen.

Trotzdem hat er sehr unter den Bauarbeiten der Türkenschule gelitten, man muss schauen, was man jetzt für ihn machen kann …

Helga Asenbaum


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 880 ff.

Überraschung

Jahr: 1997
Bereich: Umwelt

Referenzen