Materialien 1999
Damit kein Gras über die Geschichte wächst
Kunst als öffentlicher Prozess des Erinnerns
Ein Gespräch mit dem Münchner Künstler Wolfram Kastner
Herr Kastner, mit dem „Erinnern im öffentlichen Raum“ verbinden Sie etwas anderes als das Aufstellen von Denkmälern und Anbringen von Gedenktafeln.
Ich denke, dass Erinnerung etwas sehr Fragiles und Vergängliches ist und dass der Erinnerung wenig geholfen ist, wenn man sie in Stein meißelt und aufstellt oder als Bronzetafel an die Wand hängt. Damit ist sie abgestellt und abgehängt und keiner schaut mehr hin; man denke nur an die Tafel für Georg Elser am Gasteig, die kennt kaum ein Münchner. Stein und Bronze sind auch diese Verewigungsmaterialien, die so tun, als ob Erinnerung ewig wäre.
Wie sieht Ihre Form öffentlichen Erinnerns aus?
Das Entscheidende ist, sich an den Orten zu erinnern, an denen etwas stattgefunden hat. Diese Orte sind nicht weit weg, sondern mittendrin in unseren Städten. Dort versuche ich, auf eine Art und Weise zu erinnern, die irritiert – an Orten, wo Taten stattgefunden haben, an den „Tat-Orten“, und wo man auch etwas tun muss, um sich zu erinnern. Ein solcher Tatort war das Zentrum Mün-
chens, die heutige Fußgängerzone. Während der Reichskristallnacht 1938 wurden Juden aus Woh-
nungen und Geschäften abgeführt, die Geschäfte demoliert. Das hat hier stattgefunden, genau im Zentrum dieser Stadt, Jeder hat es gesehen, jeder hat es gewusst. Am 5. November 1993, einem verkaufsoffenen Samstag, haben wir eine Situation imitiert, ohne sie authentisch nachzustellen. Fünf Personen mit gelbem Stern wurden abgeführt, begleitet von zwei Männern in SA-Uniform. Das Ganze vollzog sich schweigend, ganz langsam – also nicht in authentischer Geschwindigkeit, wie ein gespenstischer Zug, Man konnte durchaus erkennen, dass hier etwas stattfand, was so nicht normal ist, was es so eigentlich nicht gibt.
Wie haben die Passanten reagiert?
Nach meinem Eindruck sehr gut, Die Leute sind mit ihren Einkaufstaschen erst zielstrebig an den Geschäften entlang gegangen – und sind dann stehen geblieben. Das Geschehen hat irritiert, hat zum Nachdenken angeregt. Wir haben uns nicht unterhalten, uns auf keine Diskussion eingelas-
sen. Nur am Rand der Gruppe wurde Informationsmaterial verteilt, kleine Zettel mit drei Sätzen. Wir sind kaum beschimpft worden. Aber es gab Leute, die sich bedankt haben. Als uns dann die Polizei verhaftete, kam es sogar zu einem kleinen Auflauf und einige Passanten sagten „ja, was soll denn das, wieso werden denn die verhaftet – das ist doch wichtig und notwendig“. Die Reaktion war also überwiegend positiv.
Sie wurden von der Polizei festgenommen?
Wir wurden auf die Polizeiwache mitgenommen, wo man unsere Personalien aufnahm. Dann ging es in die Staatsschutzabteilung in der Ettstraße. Insgesamt wurden wir zwei Stunden lang verhört.
Sie hatten diese Performance vorher bei den Behörden nicht angemeldet?
Nein. In dem Moment, wo ich es anmelde und dann uniformierte Polizei mitläuft, stellt sich zum Beobachter eine Distanz her, es gibt keinen direkten Blickkontakt mehr. Was irritiert, ist weniger die Darstellung selbst als vielmehr die Polizeibegleitung.
Hatte die Festnahme Folgen für Sie?
Interessant ist, wie Polizei und Staatsanwaltschaft sich verhalten haben. Ich hatte die Verantwor-
tung für die Aktion auf mich genommen und bekam Strafanzeigen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz usw. und Bußgeldbescheide. Es war schon ein bisschen bedrückend, als mir Strafanzeigen zugeschickt wurden. Ich habe dann nachträglich hilfsweise die Erinnerungsperfor-
mance beim Baureferat beantragt als Sondernutzung öffentlichen Raums. Es folgte ein Verbot der Performance mit dem Hinweis, „man könne nicht unterscheiden, ob es eine wirkliche oder unwirk-
liche Situation gewesen ist“ – was 1995 schon irgendwie interessant ist! – und dass die aufsichts-
führende Behörde „die Aufgabe habe, für die körperliche und seelische Unversehrtheit der Passan-
ten zu sorgen. Wenn da jemand ginge, der das als Augenzeuge damals erlebt hat, könne der jetzt einen Schock erleben und davor müsse man die Bürger schützen“. Das Gegenteil war der Fall: ein Passant sagte mir, seine ganze Familie sei ausgelöscht worden, und er bedanke sich dafür, dass man in dieser Form daran erinnert.
Erst auf Drängen der Öffentlichkeit, sprich der Presse, und als sich auch der Oberbürgermeister einschaltete, wurde das Verbot aufgehoben und der Staatsanwalt erkannte, dass „kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse mehr besteht“. Daraus kann man schließen: Solange die Öffentlichkeit wegschaut, besteht also ein öffentliches Strafverfolgungsinteresse, sobald sie hinschaut, nicht mehr.
Anders haben die Behörden reagiert, also Sie – wieder ohne vorherige Anmeldung – im Justizpa-
last den Abwurf der Flugblätter durch die Geschwister Scholl nachstellten, in Erinnerung daran, dass in diesem Gebäude die Mitglieder der Weißen Rose verurteilt wurden. Hier wurde inzwi-
schen eine Gedenktafel angebracht.
Diese Tafel ist genauso, wie sie nicht sein soll. Es ist eine kupferbraune Tafel auf braunem Grund, die niemand sieht. Ich kenne eine Reihe von Anwälten, die diese Tafel bis heute nicht gesehen ha-
ben! Man kommt in das Justizgebäude und sieht als erstes eine weiße Tafel mit rotem Rand: „Das Mitbringen von Hunden ist untersagt“. Dahinter befindet sich ein Ständer mit Informationen und dann folgt im Abstand von 1 Meter die Gedenktafel. Die Tafel hängt im Dunkeln und die Erinne-
rung bleibt genauso im Dunkeln. Aber man hat seine „Gedenkpflicht“ erfüllt …
Eine Aktion, die ich ganz besonders beeindruckend finde, ist Ihre Erinnerungsperformance an die Bücherverbrennung 1933.
In München fand die Bücherverbrennung auf dem Rasen am Königsplatz statt. 1935 wurde dann der Platz mit Platten belegt, bereit für die großen Aufmärsche. 1988 entfernte man die Platten und pflanzte wieder Rasen an. In einer Hochglanzbroschüre schrieben sowohl der damalige Oberbür-
germeister Kronawitter als auch Ministerpräsident Streibl: „… endlich darf wieder Gras über die Geschichte wachsen“.
So steht das in der Broschüre??
Ja. Ich fand das unmöglich und habe den Ball aufgenommen. Ich habe beantragt, einen Brandfleck im Durchmesser von etwa 2,5 Metern in den Rasen brennen und ein Schild anbringen zu dürfen, auf dem in deutsch und englisch steht, dass 50.000 deutsche Akademiker in München Bücher ver-
brannt haben. Ich habe die Stadt gebeten, eben kein Gras mehr über die Geschichte wachsen zu lassen und diesen Brandfleck einmal im Jahr nachzubrennen.
Bekamen Sie die Genehmigung?
Eine Gedenkstättenkommission wurde eingesetzt, in der so bekannte Leute waren wie Professor Möller vom Institut für Zeitgeschichte – der übrigens auch eine interessante Rolle in Bezug auf die Wehrmachtsausstellung spielte. In die Kommission wurden auch Dr. Bauer vom Stadtarchiv sowie Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalschutz und des Museumspädagogischen Zentrums be-
rufen. Mein Antrag wurde abgelehnt mit dem Argument, dass die historische Situation nicht mehr gegeben sei. Glücklicherweise gibt es die nicht mehr, aber deswegen kann oder muss man doch daran erinnern! Man sagte mir, die Rasensituation von 1933 sei nicht mehr vorhanden und das Ganze stünde außerdem unter Denkmalschutz – wobei ein Rasen schwerlich unter Denkmalschutz stehen kann, aber na ja. Das waren doch „hochqualifizierte“ Einwendungen! Erst auf Intervention der Öffentlichkeit und der damaligen Bürgermeisterin Csampei hat man sich bereit erklärt, es zu-
mindest befristet zuzulassen.
Wie lange blieb der Brandfleck?
Am 9. November 1995 habe ich den Brandfleck und die Informationstafel angebracht, befristet bis 23. Dezember. Im Januar 1996 wurde dann das Schild abgesägt und in die Kammer für dreidimen-
sionale Geschenke ins Stadtarchiv gebracht. Und seitdem wächst der Rasen wieder, wächst wieder „Gras über die Geschichte“.
Dass diese Erinnerungsaktion noch länger im Gespräch geblieben ist, ist auch dem Haus der Kunst zu verdanken.
Ich habe den Brandfleck dokumentiert und die Bilder dort ausgestellt Inzwischen sind die Fotos in Yad Vashem in Tel Aviv, in München habe ich nur Ablehnungen bekommen mit der Begründung, „das sei doch keine Kunst“. 1997, die Gedenkstättenkommission war inzwischen selig entschlafen, habe ich die Aktion nochmals beantragt, bekam aber eine empörte Absage in dem Sinne, dass ein behördlicher Beschluss doch mindestens einige Jahre Bestand habe. Derartiges ist aber keine Münchner Spezialität, das ist mir auch in anderen Städten passiert. Ich denke, dass man in unse-
ren schön polierten Städten, unseren „guten Stuben“, keine dunklen Flecken der Geschichte zeigen möchte. Die werden exterritorialisiert, nach Berlin z.B. oder in die Gedenkstätten. Dies ist die Ver-
drängung von Geschichte aus dem Bild der Gegenwart – und das kann doch nicht sein!
Die Verdrängung von Geschichte funktioniert auch bei Georg Elser, der schon frühzeitig erkannt hat, auf was Hitler und die Nationalsozialisten zusteuern. Am 9. November 1999 haben Sie an ihn erinnert.
An vier Orten in München, an denen Elser sich aufgehalten hat, habe ich seinen Satz aus einem Ge-
stapoverhör: „… ich wollte durch meine Tat noch größeres Blutvergießen verhindern“ auf das Stra-
ßenpflaster gesprüht – mit Genehmigung des Baureferats. Die anschließende Aktion hatte ich nicht angemeldet: auf dem Gedenkstein für den Widerstand, der nahe der Staatskanzlei steht, fehlt – bewusst! – sein Name. Es ist ein unglaubliches, ärgerliches Versäumnis der Staatskanzlei und ihrer Historikergremien, dass der Name dieses großartigen, entschlossen handelnden Menschen dort nicht verzeichnet ist. Ich habe deshalb diesen schwarzen Stein um den Namen „Elser“ ergänzt – mit weißer Farbe gut sichtbar aufgesprüht.
In unmittelbarer Nähe der Staatskanzlei war doch sicher gleich die Polizei zur Stelle.
Ja, und in Windeseile, innerhalb von 2 ½ Stunden, war ein Reinigungstrupp da, an einem Sonn-
tag! Ich habe dann von der Staatsschutzabteilung der Polizei wegen gemeinschädlicher Sachbe-
schädigung für den 18. November eine Vorladung bekommen, wurde dabei erkennungsdienstlich erfasst, d.h. es wurden Fingerabdrücke genommen und ich wurde fotografiert. Da fragt man sich, ob die Erinnerung an Elser im öffentlich Raum heute noch als staatsgefährdend, vielleicht als ge-
fährliches Beispiel angesehen wird.
Ihre Aktionen beschränken sich nicht nur auf Deutschland. In Salzburg haben Sie auf eine Er-
innerungspraxis aufmerksam gemacht, die Sie als „Seh-Störung“, als „braunen Star“ bezeichnen.
Seit 1954 marschiert an jedem 1. November am Kriegerdenkmal im Kommunalfriedhof von Salz-
burg eine Abordnung ehemaliger Waffen-SS-Männer auf in Reih und Glied, mit Marschmusik, und legt einen Kranz nieder. Auf der Kranzschleife steht in protziger Frakturaufschrift „Den gefallenen Kameraden der Waffen-SS“. Mit Böllerschüssen, Blasmusik und schwelenden Opferschalen wird hier eine wirklich faschistische Ästhetik zelebriert. Der Waffen-SS voraus marschiert die FPÖ, mit derselben Blasmusikgruppe, weht mit der blauen Fahne, legt ebenfalls einen Kranz nieder, bleibt stehen und bildet ein Spalier für die SS-Kameraden, Ein unglaublicher Vorgang! Ich habe das durch Zufall gesehen und war völlig aufgewühlt.
Im November 1994 kann es dann zu dem, was die FPÖ als „pietätlose Tat“ bezeichnete.
Ich habe eine alte künstlerische Technik angewandt, etwas sichtbar zu machen, indem man etwas schneidet, einen „ScherenSchnitt“: ich habe die Kranzschleife abgeschnitten.
Sie haben später nochmals versucht, die „Seh-Störung“ zu kurieren?
1996 habe ich mich mit einer kleinen Gruppe vor dem Einmarsch der Waffen-SS vor das Krieger-
denkmal gestellt. Wir hatten eine Tafel dabei mit der Aufschrift: „Wir ehren die ermordeten Deser-
teure“.
Wie haben die Anhänger der Waffen-SS reagiert?
Wir wurden mit ruppigem Einsatz von der Polizei abgedrängt, der Weg frei gemacht für den Auf-
marsch der SS-Veteranen, Im Jahr darauf habe ich dann zur Ehrung der Deserteure einen Kranz niedergelegt, da hatten sich dann schon andere Salzburger mit eingeklinkt. Es gab daraufhin Strafanzeigen wegen einer unangemeldeten Versammlung. Nun ist das Gedenken an Tote auch in Österreich nicht strafbar, das ist ein „volksüblicher Brauch“ und deshalb nicht anmeldepflichtig. Daraus ist zu schließen: Der SS-Aufmarsch zählt zum „volksüblichen Brauchtum“, das Gedenken an ermordete Deserteure nicht Man muss dazu wissen, dass die SS sehr in die Gesellschaft inte-
griert ist. Einfluss darauf hatte sicher der bis 1982 im Amt befindliche Polizeipräsident von Salz-
burg, SPÖ-Mitglied, der selbst Mitglied der Waffen-SS war und noch bis in die 70er Jahre in seinem Büro ein Hitlerbild hängen hatte.
Die Gedenkfeiern der Anhänger der Waffen-SS finden immer noch statt?
Ja. Deshalb habe ich im November 1999 die Kranzschleife nochmals abgeschnitten und sie dem Parlamentspräsidenten nach Wien geschickt mit der Bitte, die Salzburger zu veranlassen, diese faschistische Wiederbetätigung einzustellen.
Was sagen Historiker zu Ihrer Aktionen?
Da geht ein Riss quer durch die Reihen. Es gibt bei Wissenschaftlern eine gewisse Bilderfeindlich-
keit. Auch politisch denkende mäkeln z. T., dass dies zu spektakulär und keine wissenschaftliche Arbeit sei. Natürlich ist es keine wissenschaftliche Arbeit, aber es ist eine Sichtbarmachung dessen, was in Sachen Geschichte erinnert gehört. Dr. Norbert Frei findet z.B. den Brandfleck hervorra-
gend, Dr. Richard Bauer wiederum findet meine Aktionen entsetzlich.
Hat Ihrer Meinung nach Kunst einen politischen Auftrag?
Wenn Kunst sich als Beitrag zur öffentlichen Wahrnehmung versteht, etwas sichtbar macht, was man sonst nicht sieht, dann gibt es nichts, womit sie sich nicht beschäftigen dürfte und sollte. Kunst und Politik in zwei Bereiche zu trennen, die nichts miteinander zu tun haben, ist – mit Verlaub – eine dumme und törichte Angelegenheit.
Herr Kastner, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde geführt am 18. November 1999.
Ingrid Reuther
Quellen und Literaturangaben:
W. Kastner: „Wie Gras über die Geschichte wächst. Erinnerungszeichen zu den Bücherverbrennun-
gen“, Al Verlag, München, ISBN 3.927743-28-3
„SehStörung Salzburg. Politische Ästhetik, Interventionen, Wahrnehmungsversuche“ ARGE Kul-
turgelände Nonntal, Salzburg, ISBN 3-901905-05-7
„Vergessen – eine deutsche Straße, Weg nach Dachau“, Buchendorfer Verlag, München, ISBN 3-927984-47-7
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Wolfram Kastner
wurde 1947 in München geboren und studierte hier an der Akademie der Bildenden Künste sowie an der Ludwig-Maximilian-Universität (Germanistik, Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Poli-
tische Wissenschaften). Nach dem Studium war er Referent für politische Bildung und Kultur, 1988 gründete er die Kurt Eisner-Kulturstiftung. Seit 1979 ist er freischaffender Künstler. Neben seinen Ausstellungen tritt er immer wieder durch politische Kunstaktionen in Erscheinung (neben den im Interview erwähnten):
1982 „Abrüstung, Rüstungskonversion“, Gestaltung an der Bundeswehrhochschule München,
1986 „Denkloch“, Kunstaktion Kurt Eisner,
1986 „Ludwig-Lustfahrt“, demokratisch-antimonarchistisches Satire-Spektakel auf dem Starnber-
ger See,
1987 „Künstler gegen Volkszählung“, Gestaltung von Plakatwänden, München 1988; „Stein des Anstoßes“, Kunstaktion mit Errichtung eines Gedenksteines,
1994 „Schwarzes Blut“, Kunstaktion an der Gefängnismauer von Stadelheim zu Gustav Landauers Ermordung,
1995 „Vergessen – eine Straße, Weg nach Dachau“,
1998 „Kein Licht ins Dunkel der Geschichte“, 9. November 1938 „Reichskristallnacht“,
1999 „Zivilstraße“, zur ideellen und nominellen Entmilitarisierung Neuhausens.
Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten 8/2000, 52 ff.