Materialien 1999

Die große bayerische Bildungsoffensive – oder: Wie die CSU den Rückschritt als Reform feiert

Schulreform tut not. Vom Bundespräsidenten a.D. bis zum Ministerpräsidenten Stoiber tönt es laut: Eine Bildungsoffensive braucht das Land.

Die deutschen und die bayerischen Schulkinder sind längst nicht die schlauesten im internationalen Vergleich, sondern sie gehören ins letzte Drittel. Gerade in Mathematik, sagt die TIMSS-Studie. Im Land der Dichter und Denker kriselt es an den Schulen: Jede Woche fallen eine Million Unterrichtsstunden wegen Lehrermangel aus (SZ vom 20. Juli 1999), in Bayern hat man die Unterrichtsstunden systematisch gekürzt, damit die Fehlstunden nicht zur Katastrophe werden. Das Geld für genügend Lehrkräfte wird nicht bewilligt. So müssen jedes Jahr in Bayern über 11.000 Kinder (das sind fast 9 Prozent jedes Jahrgangs) die Schule ohne jeden Abschluss verlassen. Und nur knapp ein Fünftel der Schüler/innen jedes Jahrgangs schafft in Bayern das Abitur, was aber für die CSU-Regierungspartei immer noch viel zu viele sind.

Während in München oder Starnberg nur rund ein Viertel aller Siebtklässler (24,2 Prozent bzw. 27 Prozent) an den Hauptschulen verbleibt, sind es im Landkreis Traunstein 52,4 Prozent und in Altötting 54,5 Prozent.

Da gäbe es viel zu tun, um das regionale und das soziale Bildungsgefälle zu überwinden und wirklich jedem Kind das Recht zu sichern, „eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten“, so wie es Art. 128 (1) der Bayerischen Verfassung dem Freistaat als oberste Pflicht auferlegt.

Was aber tut die seit fast vierzig Jahren dafür allein verantwortliche CSU-Mehrheitspartei? Sie kündigt 1998 in Wildbad Kreuth erst einmal die „Zukunftsoffensive“ für die Schulen an. Dann übersteht sie erst einmal siegreich die Landtagswahlen im Herbst. Am 11. Februar 1999 darf die neue Schulministerin, die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, im Landtag „Für die Zukunft unserer Jugend“ die „Bildungsoffensive Bayern“ verkünden und im Juli wird schließlich der Entwurf für entsprechende Änderungen des Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes (EUG) eingebracht.

Was ist der wesentliche Inhalt dieser .Reform“?

1. Die bereits ohne gesetzliche Grundlage begonnene Einführung der sechsstufigen Realschule (R6) wird bis zum Jahr 2006 flächendeckend abgeschlossen sein. Damit wird für alle Kinder im 9. und 10. Lebensjahr nach der 4. Klasse Grundschule abschließend über ihre Schullautbahn entschieden.

2. Die Hauptschule wird „gestärkt“, indem man dort sogenannte M-Züge (= Mittlere-Reife-Kurse) und Praxisklassen für die Schwächsten einrichtet. Die Berufsaufbauschule BAS wird ohne Kommentar abgeschafft.

3. An den Grundschulen soll der Stichtag für die Einschulung um ein halbes Jahr vorverlegt werden, um bei „hochbegabten Kindern der Gefahr von Entwicklungsschäden“ zu begegnen.

Die Förderung u.a. des Mathematikunterrichts wegen der schlechten Vergleichsergebnisse ist ebenfalls geplant. (Weitere Änderungen für Berufsschulen (Fachsprengel), Wirtschaftsschulen, Fachschulen und Fachakademien können hier nicht kommentiert werden.)

Die Kosten dafür werden nach Monika Hohlmeier insgesamt 2,2 Mrd. betragen, darunter sind 479,5 Mio. DM für die Realschulen und 82 Mio. DM für die Reform der Hauptschulen vorgesehen.

Die große „Reform“ ist also zunächst die endgültige Festschreibung des dreigliedrigen Schulsystems mit verschärfter Auslese nach der Grundschule. Da die Regierungspartei weiterhin eine sog. „horizontale Durchlässigkeit“ strikt ablehnt, also den Wechsel zwischen den Schulzweigen in einer Orientierungsphase, z.B. in der 5. — 6. Klasse sowie erst recht integrierende Schulformen wie die Gesamtschule verteufelt, sind die Folgen dieser „Offensive“ klar abzusehen: Eine verschärfte soziale und regionale Auslese, ein Rückgang der Schülerzahlen am Gymnasium, wo Bayern ohnehin das Schlusslicht in Deutschland ist. Die groß angekündigte „Reform“ ist also ein Rückschritt in die bildungsfernen Zeiten Bayerns.

„Wenn wir die Kinder und Jugendlichen so fördern wollen, wie es der Differenziertheit ihrer Begabungen und Neigungen entspricht, dürfen wir nicht immer nur an das Abitur denken“, sagt die Tochter von Strauß am 11. Februar 1999 im Landtag.

Noch deutlicher formuliert es ein Papier aus dem Kultusministerium, das klar sagt, dass es allein um „die Lenkung von Schülerströmen“ geht. Demnach freut man sich im Kultusministerium schon darauf, dass durch die Einführung der R6 die Übertrittsquote auf das Gymnasium um 10 Prozent gesenkt werden kann, die Zahl der Realschüler/innen in den 7. Klassen um eine Viertel abnehmen wird, und der Hauptschüleranteil von 37 Prozent auf 45 Prozent ansteigen soll.

Damit ist die CSU-„Reform“ als Offensive gegen die Zukunft unserer Jugend enttarnt. Die Staatsregierung will nicht gemäß Art. 128 alle Kinder entsprechend ihrer Fähigkeiten fördern, sondern sie will mehr Bildung verhindern und das Recht der Kinder auf Förderung ihrer Fähigkeiten in den öffentlichen Schulen einschränken. Das aber ist verfassungswidrig. Ob deshalb Frau Hohlmeier ihre Kinder lieber auf eine Waldorfschule schickt?


Freidenkerinfo. DFV Ortsgruppe München vom September — Dezember 1999, 3 f.

Überraschung

Jahr: 1999
Bereich: SchülerInnen

Referenzen